Ermyas M. wurde am 16. April 2006 gegen vier Uhr morgens in der Nähe des Potsdamer Bahnhofs Charlottenhof mit schweren Kopfverletzungen aufgefunden. Er war bewusstlos und schwebte in Lebensgefahr, fast zwei Wochen lang. Unbekannte hatten ihm mit einem wuchtigen Faustschlag den Augenknochen zertrümmert. Kurz zuvor hatte Ermyas M. die Handy-Nummer seiner Ehefrau gewählt und ihr eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Zufällig wird auch ein Streitgespräch aufgezeichnet, das er mit zwei Männern hatte. Es fallen Sätze wie: »Wir machen dich platt, du N-Wort!«
Die Gewalttat löste bundesweit Betroffenheit und Empörung aus. Sie hatte eine intensive Berichterstattung zur Folge, die zunächst von einer öffentlichen, geradezu emotionalen Zuwendung zu Ermyas M. geprägt war. Bis zum Gerichtsprozess wurde ausführlich über ihn und die Ermittlungen berichtet, begleitet von einer Debatte über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.
Während dieser Zeit drehte sich die öffentliche Parteinahme von der anfangs großen Empathie hin zu einer weitgehenden Demontage der Person des Opfers. Gleichzeitig wurde die zunächst als sicher angenommene rassistische Tatmotivation immer stärker in Zweifel gezogen. Diese öffentlichen Bewertungen prägten die Atmosphäre und gestalteten auch wesentlich den Verlauf des Gerichtsprozesses mit.
In der Verhandlung ging es nicht nur um die Klärung der Täterschaft, sondern auch um die Würdigung der Tatmotivation, also um die Frage, was das Gericht als Rassismus ansieht und was nicht. Den Prozess haben eine Mitarbeiterin und eine Unterstützerin des Vereins Opferperspektive verfolgt. Ihre Mitschriften und ein umfangreiches Pressearchiv sind die Grundlage dieses Dossiers, das die Fachjournalistin Beate Selders mit ihnen erstellt hat.
Das Dossier besteht aus einer Chronologie der Ereignisse mit umfangreichen Quellenangaben. Es schließt sich die Darstellung der politischen Auseinandersetzungen über den Fall an. Danach werden die wesentlichen Abläufe der Ermittlungen dargestellt und erklärt, um im Weiteren die Darstellung in den Print-Medien kritisch zu beleuchten.
Ergänzt werden diese Kapitel durch drei Interviews: Elena Buck (Universität Leipzig) zeigt anhand der Berichterstattung Schnittmengen in den Diskursen der »gesellschaftlichen Mitte« und des »rechten Randes« auf. Mario Peucker (Europäisches Forum für Migrationsstudien) erläutert, weshalb die Tat – unabhängig des Gerichtsurteils – als rassistisch zu werten ist. Der Migrationsforscher Mark Terkessidis geht der Frage nach, warum es in Deutschland auch dann vermieden wird, von Rassismus zu sprechen, wenn dieser evident ist.
Die 46-sekündige Audioaufnahme von der Tat wurde, nach Rücksprache mit dem Betroffenen, von dieser Seite herunter genommen, da sie rassistische Sprache enthält. Nach Bedarf können wir die Aufnahme zur Verfügung stellen. Kontaktieren Sie uns hierfür.
Files:
Der_Fall_Ermyas_M
[Chronik einer Debatte. 2008, 52 S.]
application/pdf 1.5 MB