Rechte Gewalt – Definitionen und Erfassungskriterien

 

Inhalt

  1. Was ist rechte Gewalt? Zwei Fallbeispiele
  2. Zusammenhang der rechten Feindbilder
  3. Die Erfassung rechter Gewalt durch die Polizei
  4. Abweichungen zwischen Polizei und Opferperspektive
  5. Dunkelfeld
  6. Forderungen
  7. Zusammenfassung: eine Definition rechter Gewalt

1. Was ist rechte Gewalt? Zwei Fallbeispiele

Die drei jungen Geflüchteten waren auf dem Weg zu Williams Bruder und kamen dabei am so genannten »Doppelgänger«, einem kleinen Platz an den Treppen zur Rathauspassage, vorbei. Das war am Abend des 24. Juli 2004 in Fürstenwalde. Am Doppelgänger treffen sie auf eine größere Gruppe von rechtsorientierten Jugendlichen, einige darunter Skinheads. Einer der Deutschen zeigt mit dem Finger auf William, den Kenianer. William will von dem Deutschen wissen, ob er ihn meine. Die Antwort ist barsch und unfreundlich. Er könne mit dem Finger hinzeigen, wo er wolle. Im Hintergrund ruft ein Skinhead »N-Wort«. Die drei Flüchtlinge werden weiter angepöbelt. Ob sie Pässe hätten, was sie in Deutschland zu suchen hätten. Zakiullah, der 17-jährige Flüchtling aus Afghanistan, entgegnet, dass sie keine Pässe bräuchten. Dann ruft der Skinhead aus dem Hintergrund »White Power« und schlägt William auf den Kopf. Auch Zakiullah und sein Freund Farid werden attackiert. Mehrere Angreifer stürzen sich auf jeden von ihnen, schlagen, treten und reißen an der Kleidung. Auch zwei Mädchen beteiligen sich an dem Angriff. Farid, der sich verteidigt, wird mit einer abgebrochenen Bierflasche im Gesicht verletzt und fängt heftig zu bluten an. Zakiullah erhält einen Faustschlag auf die Nase, Blut läuft ihm über das Gesicht. Den drei Opfern gelingt es sich loszureißen und wegzurennen. Drei der Angreifer verfolgen sie, holen sie aber nicht mehr ein. Im Prozess wird ein Skinhead sagen: »White Power, das bedeutet, dass wir die Macht haben.«

Mehrere Indizien weisen auf eine rassistische Motivation der Angreifer hin. Geradezu typisch ist das rassistische Anpöbeln, das der Gewalttat vorausgeht. Den Geflüchteten wird mit Hass begegnet, ihnen wird ein Aufenthaltsrecht in Deutschland bestritten, William wird mit der Beleidigung des »N-Wortes« abgewertet. Das lässt auf ein rassistisches Feindbild als motivierende Ursache des folgenden Angriffs schließen. Andere mögliche Motive, ein normaler persönlicher Streit oder ein materiellen Motiv, sind nicht erkennbar. Ohne das angenommene rassistische Motiv würde die Tat völlig grundlos erscheinen.

Es war nicht das erste Mal, dass Rocco P. (18) von Rechtsradikalen angegriffen wurde. Als äußerlich auffälliger Punk traf es ihn vier Mal in einem Jahr in der Uckermark, zuletzt in seinem Heimatdorf Flieth-Stegelitz am 12. Juni 2004. Rocco wollte gegen 23 Uhr mit neun Freunden, darunter andere Punks, das alljährliche Dorffest besuchen. Schon bei ihrer Ankunft wurden sie von zwei Rechtsradikalen als »Abschaum« beschimpft. »Wir schneiden dir den Rock ab«, schrien die Rechten, die von einem Dutzend Gesinnungsgenossen Verstärkung erhielten. Dann fielen die Rechten über mehrere der Punks her. Ein 16-Jähriger wurde auf den Boden gestoßen und ins Gesicht geschlagen. Ein anderer wurde zu Boden geworfen, drei Rechtsradikale traten auf ihn ein. Rocco griff ein und wehrte die Angreifer ab. Den Punks gelang es zu fliehen, verfolgt mit Stein- und Flaschenwürfen. Auf der Flucht wurde einem weiteren Jugendlichen in die Nieren getreten, ein anderer in den Rücken geschlagen.

Wieder geht der Gewalttat ein Anpöbeln voraus. Die Angreifer drücken ihr Feindbild »Punks« mit den abwertenden Worten »Abschaum« aus. Eine persönliche Bekanntschaft zwischen Tätern und Opfern ist nicht Bedingung der Tat. Die Punks werden nicht angegriffen, weil sie einen persönlichen Streit mit den anderen Jugendlichen hatten. Sie werden stellvertretend für die Gruppe der Punks angegriffen. Der Hass der Rechten richtet sich gegen alle Punks, das konkrete Opfer wird als ein Exemplar der eingebildeten Feindgruppe behandelt.

Den Beispielen ist gemeinsam, dass normale kriminelle Motive eine nur untergeordnete Rolle spielen. Ohne die angenommenen Feindbilder auf Seiten der Täter, hier »Geflüchtete«, da »Punks« oder »Zecken«, wären die Angriffe wahrscheinlich nicht geschehen. Bestimmte, von der Tätergruppe und über sie hinaus geteilte Feindbilder werten bestimmte Menschengruppen ab, sprechen ihnen die gleichen Rechte ab, lösen die Aggression der Täter aus, um Macht über die Opfer zu beanspruchen.

Das ist rechte Gewalt: Gewalt, für die eine Motivation aus spezifisch rechten Diskursen die notwendige Bedingung ist.

2. Zusammenhang der rechten Feindbilder

Es gibt einen Zusammenhang zwischen den rechten Feindbildern. Nicht nur sind es oft dieselben Täter, die Geflüchtete, Linke, Punks, Schwule oder Obdachlose angreifen; es besteht auch ein innerer Zusammenhang zwischen den Feindbildern, der in den Diskursen organisierter Rechtsextremer sichtbar wird. Ausgehend vom fiktiven Ideal einer »deutschen Volksgemeinschaft« werden den Bevölkerungsgruppen, die von dieser Norm abweichen, die Feindschaft erklärt. Die Abweichung von der Norm, die tatsächlichen oder zugeschriebenen Unterschiede zwischen der idealen Wir-Gruppe und den anderen sollen beseitigt werden, indem die anderen beseitigt werden – durch Ausgrenzung, Vertreibung oder Tötung.

Das macht Diskurse, die die Gleichwertigkeit der Menschen bestreiten, zu Handlungsvorlagen gewalttätiger Angriffe. Das ist der Grund, warum sich die Gewalttätigkeit der Täter nicht von ihrer rechten Einstellung trennen lässt.

»Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«

Der Zusammenhang zwischen den rechten Feindbildern wurde von Sozialwissenschaftlern wie Wilhelm Heitmeyer als »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« bezeichnet. Heitmeyer spricht in seinen Untersuchungen über Einstellungsmuster in der deutschen Bevölkerung von einem Syndrom aus:

  • Rassismus (die Weißen seien zurecht führend in der Welt; Aussiedler sollten besser gestellt werden als “Ausländer”, da jene deutscher Abstammung seien)
  • Fremdenfeindlichkeit (in Deutschland würden zu viele Ausländer leben; Ausländer sollten zurückgeschickt werden, wenn die Arbeitsplätze knapp werden)
  • Antisemitismus (Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland; Juden hätten durch ihr eigenes Verhalten eine Mitschuld an ihrer Verfolgung)
  • Heterophobie (Angst vor dem »Anderssein« von Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten)
  • Islamphobie (generelle Ablehnung von muslimischen Personen und Praktiken des Islam)
  • Etabliertenvorrechte (Alteingesessene sollten mehr Rechte als neu Hinzugekommene haben)
  • klassischer Sexismus (Frauen sollten gegenüber Männern zurücktreten und sich auf ihre »angestammte« Rolle von Ehefrau und Mutter besinnen)

Das bedeutet, dass Menschen mit hohen Werten in einem Einstellungsmuster, etwa Rassismus, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch hohe Werte in den anderen Einstellungsmustern haben. Gemeinsamer Kern ist die Annahme der Ungleichwertigkeit verschiedener Bevölkerungsgruppen.

3. Die Erfassung rechter Gewalt durch die Polizei

Ob eine Gewalttat eine rechtsmotivierte Tat ist, ist immer eine Frage der Interpretation. Ausgehend von manifesten Anhaltspunkten wie einschlägige Äußerungen der Täter vor, während oder nach der Tat, bestimmten Tatumständen wie dem Fehlen anderer plausibler Motive, der scheinbaren Grundlosigkeit des Angriffs, der Nicht-Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer oder einer spezifischen Opferauswahl, werden den Tätern bestimmte Motive zugeschrieben. Diese Interpretation kann irrig oder unsicher sein.

Das ist einer der Gründe, warum es immer wieder zu Interpretationskonflikten zwischen der Polizei und bestimmten Opfergruppen bzw. der Opferperspektive kommt. Dies gilt in besonderem Maße, wenn manifeste Anhaltspunkte nicht greifbar sind und die Lücken aus dem einschlägigen Vorleben der Täter geschlossen werden.

Rechtsextremismus

Die Polizei stellte im Jahr 2001 ihr Erfassungssystem für rechte Gewalt radikal um. Bis dahin war der Begriff Rechtsextremismus zentral. Gebildet wurde der Begriff Rechtsextremismus als Ableitung des Begriffes Extremismus, gefasst als Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Maßgebend für diese Definition war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) im Jahr 1956. Das Gericht bestimmte damals sieben oberste Werte des demokratischen Verfassungsstaats:

  • die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung,
  • die Volkssouveränität,
  • die Gewaltenteilung,
  • die Verantwortlichkeit der Regierung,
  • die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
  • die Unabhängigkeit der Gerichte,
  • das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.

Auffallend ist, dass sechs der sieben Prinzipien den Staatsaufbau betreffen. Das macht den Begriff Extremismus zu einem Begriff primär des Staatsschutzes. Der Staat will Parteien und Gruppierungen abwehren, die das politische System ablehnen, es aktiv bekämpfen und überwinden wollen. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Unternehmen nur organisiert durchgeführt werden kann.

Angewendet auf rechte Gewalt erfüllten bis 2001 eine große Zahl von Gewalttaten gegen Flüchtlinge, MigrantInnen, alternative Jugendliche und Obdachlose das Kriterium des Extremismus nicht. Weder sprach aus diesen Taten der planvolle Wille zur Systemüberwindung, noch handelten die Täter im Auftrag einer Organisation mit solchen Zielen. Die Menschenrechtsverletzungen, die Gewalttaten der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« ohne Zweifel darstellen, standen auffällig quer zur Definition des Rechtsextremismus. Eine Zeitlang behalfen sich Polizei und Verfassungsschutz mit der Hilfskonstruktionen wie etwa »fremdenfeindlich motivierter Gewalt«. Nach der Aufdeckung der »vergessenen« Todesopfer rechter Gewalt nach 1990 durch engagierte JournalistInnen sah sich das BKA zum Handeln gezwungen.

»Politisch motivierte Kriminalität«

Am 1. Januar 2001 wurde das neue Erfassungssystem »Politisch motivierte Kriminalität« eingeführt. Zentraler Begriff ist die »politisch motivierte Kriminalität« (PMK) mit den Phänomenbereichen PMK-rechts, PMK-links und »politisch motivierte Ausländerkriminalität«. Als politisch rechtsmotiviert gilt eine Tat insbesondere dann,

»wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet.« (Bundesamt für Verfassungsschutz)

Unschwer lässt sich hier das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes als Grundlage der Aufzählung erkennen, erweitert um sexuelle Orientierung, äußeres Erscheinungsbild und gesellschaftlichen Status. In Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes heißt es:

»Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.«

Eine Teilmenge der PMK-rechts sind die Gewaltstraftaten, die von den anderen Straftaten wie Propagandadelikte, Sachbeschädigungen und Volksverhetzung zu unterscheiden sind. Folgende Delikte fallen unter »politisch motivierte Gewaltkriminalität«

  • Tötungsdelikte
  • Körperverletzungen
  • Brandstiftungen
  • Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion
  • Landfriedensbruch
  • gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr
  • Freiheitsberaubung
  • Raub
  • Erpressung
  • Widerstandsdelikte
  • Sexualdelikte

Das Neue des Erfassungssystems PMK ist nun, dass nicht nur extremistisch motivierte Taten erfasst werden, sondern auch solche, die nicht das Merkmal der Systemüberwindung aufweisen. Dafür wurde der Begriff »Hasskriminalität« geschaffen, der fremdenfeindlich und antisemitisch motivierten Taten umfasst sowie solche, die die sich gegen das äußere Erscheinungsbild bzw. den gesellschaftlichen Status der Opfer richten, also insbesondere Taten gegen Obdachlose und Behinderte.

Hate Crime

Der Begriff Hasskriminalität lehnt sich an den US-amerikanischen Begriff des »Hate Crime« oder »Bias Crime« an. Der US Congress definierte 1990:

»Ein Hate Crime ist ein Verbrechen, bei dem das Täterverhalten durch Hass, negative Haltung (bias) oder Vorurteil motiviert ist, bezogen auf die tatsächliche oder wahrgenommene Rasse, Hautfarbe, Religion, nationale Herkunft, Ethnizität, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität einer anderen Person oder einer Personengruppe.« (Federal Bureau of Investigation, FBI)

Wichtig ist hier das Wort »wahrgenommen«, denn manche Angriffe beruhen auf der irrigen Ansicht des Täters, das Opfer sei Ausländer, jüdisch etc. Fast alle Bundesstaaten haben seitdem Hate Crime-Gesetze verabschiedet, um bedrohten Minderheiten einen besonderen Schutz zu sichern. Eine weitere wichtige Neuerung des Erfassungssystems PMK ist es, dass nunmehr Taten mit einem Bündel aus politischen und unpolitischen Motiven erfasst werden können. Im »1. Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung« von 2001 heißt es dazu:

»[Es] sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auch bei Vorliegen scheinbar unpolitischer Motive (Beziehungskonflikte, Konflikte um finanzielle oder sonstige Belange) von einer rechtsextremistischen Straftat auszugehen ist, wenn für die Eskalation dieser Konflikte bis hin zur Tötung der Opfer rechtsextremistische Gewaltlegitimation, Feindbilddenken oder rassistisch oder sozialdarwinistisch motivierter Hass mitverantwortlich sind.« (Bundesminitserium des Innern, Bundesministerium der Justiz, 2001, S. 275 f.)

Wichtig ist hier die eskalierende Wirkung rechter Tatmotive. Sind solche erkennbar, so gilt auch eine scheinbar »unpolitisch« motivierte Tat als rechtsmotiviert.

4. Abweichungen zwischen Polizei und Opferperspektive

Das polizeiliche Erfassungssystem PMK deckt sich im Kern mit den von der Opferperspektive angewandten Kriterien, die sich an den Feindbildern der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« orientieren. Abweichend von der Polizei wertet die Opferperspektive jedoch auch ernstere Bedrohungen und Nötigungen als Gewalttaten, begründet durch die zum Teil massiven Auswirkungen auf die Opfer. Außerdem ist bei dem polizeilichen Erfassungssystem nicht einzusehen, warum Brandstiftungen als Gewalttaten gewertet werden, Sachbeschädigungen jedoch in keinem Fall. Das führt in Einzelfällen zu dem verqueren Ergebnis, dass rassistisch motivierte Brandstiftungen auf Imbisse als Gewalttaten gewertet werden, Vandalismus-Taten an Imbissen, begangen von denselben Tätern aus denselben Motiven, jedoch nicht. Die Opferperspektive wertet daher Sachbeschädigungen als Gewalttaten, wenn sie sich indirekt gegen bestimmte Personengruppen wie z.B. migrantische Imbissbetreiber oder politisch Aktive richten. Nicht erfasst von der Opferperspektive werden Demonstrationsdelikte wie Landfriedensbruch und Widerstandsdelikte, die sich gegen das Handeln von Polizeibeamten richten. Beleidigungen, auch politisch motivierte, fallen nicht unter den engen, »materiellen« Gewaltbegriff, der eine versuchte oder vollendete körperliche Schädigung voraussetzt.

Ausmaß der Abweichungen

Die nahezu identischen Erfassungskriterien von Polizei und Opferperspektive würden eine weitgehend gleichförmige Einstufung rechter Gewalttaten erwarten lassen. Die Abweichungen sind jedoch erheblich. Wurden vom Landeskriminalamt (LKA) im Jahr 2004 107 rechtsmotivierte Gewalttaten registriert, so von der Operperspektive im selben Zeitraum 134 Angriffe. Abzüglich der von der Polizei nicht als Gewalttaten gewerteten Bedrohungen, Nötigungen und Sachbeschädigungen kommt es immer noch zu einer Differenz von 15 Fällen. Noch größere Abweichungen ergeben sich, wenn man die einzelnen Angriffe, wie sie die Opferperspektive in der Chronologie rechter Gewalt darstellt, mit der Liste des LKA vergleicht. 40 Fälle, die die Polizei als PMK-rechts wertete, waren der Opferperspektive nicht bekannt. Umgekehrt wertete die Polizei 55 Angriffe, die in der Chronologie der Opferperspektive aufgelistet sind, nicht als politisch rechtsmotiviert. Darunter finden sich auch Fälle, die von der Bundesanwaltschaft als rechtsextremistisch motiviert eingestuft wurden.

Justiz und rechte Tatmotive

über die Ursachen der Abweichungen können keine eindeutigen Aussagen getroffen werden. Dazu müssten die einzelnen rechten Angriffe, die die Polizei nicht als rechtsmotiviert wertet, detailliert untersucht werden. Aber selbst Gerichte sind hierfür nicht die geeignete Instanz. Gerichte beschränken sich zumeist auf die Beweismittelerhebung zur Frage, ob die Angeklagten im Sinne der ihnen vorgeworfenen Straftatsbestände schuldig sind. Eine Aufklärung der Tatmotive, die für die Strafzumessung relevant wäre, findet aus prozessökonomischen Gründen nur am Rande oder gar nicht statt. Eine Ausnahme sind Tötungsdelikte, bei denen geklärt werden muss, ob das Mordmerkmal »niedere Beweggründe« gegeben war. Als »niedere Beweggründe« werden mittlerweile »ausländerfeindliche Motive« gewertet. Generell gilt, dass die Konstellation von Anklage, Strafe und Verteidigung für die Wahrheitsfindung über die Tatmotive ungünstig ist. Selbst wenn die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten nicht abstreiten oder verdrehen, was häufig vorkommt, so hüten sie sich doch zumeist vor einem Eingeständnis politischer Motive, die strafverschärfend gewertet werden könnten.

Fehler bei der polizeilichen Ersterfassung

Einige Indizien weisen auf Fehler der polizeilichen Ersterfassung hin. Ein Beispiel: am 20. Juni 2005 meldete die Fürstenwalder Polizei: »In der Nacht zum Sonntag wurde der Polizei gegen Mitternacht eine Schlägerei im Fürstenwalder Stadtpark gemeldet. Nach ersten Informationen handelte es sich dabei um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Jugendgruppen mit mehreren Personen.« Kein Wort davon, dass die Täter rechtsorientierte Jugendliche und die Opfer Punks und Alternative waren, kein Wort von den Beschimpfungen wie »Zecken, wir töten euch« und »Ihr roten Schweine«, kein Wort davon, dass es ein einseitiger Angriff von Rechten auf Punks war. Stattdessen wird der Angriff zu einer »Auseinandersetzung zwischen zwei Jugendgruppen« entpolitisiert, für die beide Seiten gleichermaßen verantwortlich erscheinen. Dieses Interpretationsmuster ist durchaus typisch, wie alternative Jugendliche oft erfahren müssen. Auch wenn die Fürstenwalder Polizei diese falsche Ersteinstufung im weiteren Verlauf der Ermittlungen korrigierte, so ist nicht davon auszugehen, dass dies bei falschen Einstufungen generell geschieht.

Ebenfalls nachträglich korrigiert wurde die falsche Einstufung einer besonders schweren rassistisch motivierten Gewalttat, die sich am 3. August 2002 in Ludwigsfelde ereignete. Ein 37-jähriger Mosambikaner wurde von einem 22-jährigen Rechtsextremen und mehreren Jugendlichen stundenlang gequält und lebensbedrohlich verletzt. Immer wieder beschimpfte der Haupttäter ihn als »schwarze Sau« und »N-sau«. Dass bei der Folterung auch die Uhr und die Geldbörse des Geschädigten verschwanden, verleitete den anfangs ermittelnden Beamten, die Tat als eine unpolitische Raubtat einzustufen. Im Gericht gab der Beamte zu, dass er sich andere Motive nicht vorstellen konnte, das hätte seiner polizeilichen Erfahrung widersprochen. Der Fall weist auf Wahrnehmungsprobleme bei rassistischen Motiven hin, die hinter dem Schein normaler Kriminalität verschwinden.

In anderen Bundesländern wie Thüringen, einer Schwerpunktregion rechter Gewalt, führen die Wahrnehmungsprobleme der Polizei so weit, dass in den Monaten Juni und Juli 2005 keine einzige rechtsmotivierte Gewalttat registriert wurde.

Andere Gründe

Das LKA selbst macht für die Abweichungen zur Opferperspektive den Umstand verantwortlich, dass einige Angriffe, die von der Opferperspektive registriert werden, nicht angezeigt wurden. Im Jahr 2004 betraf das jedoch keinen einzigen Fall. Zutreffend ist hingegen, dass der Opferperspektive der Gang der weiteren Ermittlungen nicht bekannt wird, wenn sich ein Kontakt mit den Opfern nicht herstellen lässt. Hier wären Korrekturen auf Seiten der Opferperspektive nötig. Aber selbst das würde das Ausmaß der Abweichungen nicht erklären können.

Ungeklärte Fälle

Bei einigen Angriffen wird sich jedoch keine Einigkeit in der Interpretation der Tatmotive herstellen lassen. Ein Beispiel: Am 13. September 2002 wurde der 44-jährige Asylbewerber Robert E. aus Kamerun von drei jungen Männern an einer Bushaltestelle im Potsdamer Stadtteil Schlaatz angegriffen. Ein Mann kam auf ihn zu und verlangte Zigaretten, dann »Dollars«, dann versuchte er in die Brusttasche des Opfers zu greifen. Robert E. gelang es, den Täter zurückzustoßen und wegzurennen. Er wurde verfolgt und mit einem Gummiknüppel geschlagen, konnte jedoch entkommen. Das Opfer war überzeugt, dass der versuchte Raub nur ein Vorwand war, um ihn, einen Afrikaner, aus rassistischen Motiven heraus anzugreifen. Die Tat hatte für ihn daher die für rassistische Taten typischen Folgen einer nachhaltigen Verunsicherung und Angst. Die Gerichtsverhandlung brachte keine endgültige Klärung, auch wenn einzelne Indizien wie ein T-Shirt mit einem Keltenkreuz, das der Täter trug, und ihr sozialen Umfeld auf eine rechte Gesinnung hindeuteten. Letztendlich blieb es im Bereich des Möglichen, dass nicht doch das materielle Raubmotiv ausschlaggebend für den Angriff war, dass die Tätergruppe nicht doch jedes »leichte« Opfer ausgeraubt hätte. Darauf deutet der Umstand, dass die Täter kurz zuvor an einer Tankstelle versucht hatten, Zigaretten von einem Mann abzuziehen. Subjektiv, aus der Sicht des Opfers, bleibt die Tat eine rassistische Tat.

5. Dunkelfeld

Ein Schluss lässt sich aus den Abweichungen der Registrierung rechter Gewalt zwischen Polizei und Opferperspektive ziehen. Beide Darstellungen geben das wirkliche Ausmaß rechter Gewalt nur unzureichend wieder. 40 rechtsmotivierte Angriffe, die die Polizei im Jahr 2004 registrierte, blieben der Opferperspektive unbekannt. Das liegt daran, dass die Polizei eine Vielzahl rechter Gewalttaten nicht veröffentlicht, wohingegen fast jeder Einbruch in eine Gartenlaube gemeldet wird. Diese Strategie des Verschweigens lässt sich jedoch nur an Orten durchbrechen, an denen die Opferperspektive durch Kooperationspartner oder die Geschädigten selbst auf Angriffe aufmerksam gemacht wird. Oft werden über den Kontakt mit einem Opfer weitere Angriffe bekannt, wie nach dem Schneeballprinzip. Manche dieser so in Erfahrung gebrachten Angriffe sind nicht angezeigt und wären noch länger im Dunkelfeld geblieben, wenn es nicht der Zufall des Kontakts gewollt hätte.

Schätzungen über das Dunkelfeld nicht angezeigter rechter Gewalttaten sind kaum möglich, Studien zu dieser Frage noch nicht erschienen. Die Angabe des Dresdner Projekts »Anstiftung« aus dem Jahr 2000, dass »rund Dreiviertel aller übergriffe von Rechtsradikalen gegen Ausländer in den neuen Ländern […] nicht zur Anzeige [kommen]«, beruhte auf groben Schätzungen von Experten und ersetzt keine Dunkelfeldanalyse. Anzunehmen ist, dass insbesondere solche Angriffe, die für manche Opfer fast alltäglich sind, wie Bedrohungen oder Nötigungen, oft nicht zur Anzeige gelangen, während sich schwere Gewalttaten allein wegen der Folgen für das Opfer nicht so einfach verbergen lassen.

6. Forderungen

Eine rechte Tatmotivation wird nach wie vor von Polizei und Justiz unzureichend aufgeklärt, mit der Folge, dass rechte Gewalttaten immer noch mit gewöhnlicher Kriminalität verwechselt werden. Seit Jahren fordern verschiedene Institutionen eine Änderung ein. Die »European Commission against Racism and Intolerance« (ECRI), eine Einrichtung des Europarats, mahnt seit Anfang der Jahrzehnts an, die Bundesrepublik möge gesetzlich verankern, dass eine rassistische bzw. fremdenfeindliche Tatmotivation bei allen Straftatbeständen als strafverschärfend gewertet werde. Damit würde ein Mechanismus geschaffen, der Polizei und Gerichte verpflichten würde, eine solche Tatmotivation aufzuklären. Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern hatte im November 2000, noch unter dem Eindruck des »Aufstands der Anständigen«, im Bundesrat eine Gesetzesinitiative eingebracht, den Paragrafen 46 des Strafgesetzbuches zu ändern. Menschenfeindliche Tatmotive sollten explizit als strafverschärfende Umstände bei der Strafzumessung aufgenommen werden. Wie erwartet, wurde der Antrag in einen Ausschuss verwiesen, wo er seitdem überwintert.

Andere europäische Länder sind in dieser Hinsicht schon weiter als die Bundesrepublik. In Großbritannien wurde, vorangetrieben durch eine Reihe von Skandalen wegen rassistischer Polizeiübergriffe, die Stellung des Rassismusopfers im polizeilichen Ermittlungsverfahren wesentlich gestärkt. Zentral ist hier die Subjektivität des Opfers. Als »rassistischer Vorfall« definiert die Polizei »jeden Vorfall, der vom Opfer oder einer anderen Person als rassistisch wahrgenommen wird.« (Stephen-Lawrence-Enquiry 1999) Das hat Konsequenzen für das weitere Ermittlungsverfahren. Gibt das Opfer an, für sie sei die Tat eine rassistische Tat, so ist die Polizei verpflichtet, diese Ersteinstufung zu übernehmen und nachfolgend die Tatumstände daraufhin zu untersuchen. Auf europäischer Ebene hat das »European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia« (EUMC) diese Praxis als vorbildlich gewertet und als Forderung an alle EU-Staaten gerichtet, bislang allerdings ohne jegliche Resonanz in der Bundesrepublik. Es mangelt also nicht an Vorschlägen, allein der politische Wille fehlt.

7. Zusammenfassung: eine Definition rechter Gewalt

Eine Definition rechter Gewalt sollte nicht starr sein, sondern sich an konkreten Einzelfällen bewähren und fortentwickelt werden. Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass die polizeilichen Erfassungskriterien lange Zeit der Realität hinterherhinkten. Die Definitionen, die die Opferperspektive der Erfassung rechter Gewalttaten zugrunde legt, haben sich an dieser polizeilichen Praxis abgearbeitet, sich von ihr abgegrenzt und von ihr gelernt. An dieser Stelle soll eine vorläufige Definition einer rechten Gewalttat gegeben werden:

  • die Tat ist eine Straftat, die eine körperliche Schädigung von Personen beabsichtigt oder vollendet, oder eine Sachbeschädigung oder Brandstiftung, die indirekt auf eine Schädigung bestimmter Personengruppen abzielt. Nötigungen und Bedrohungen mit erheblichen Folgen für das Opfer gelten als rechte Gewalttaten, Beleidigungen allein nicht.
  • dem Täter wird vom Opfer, einem Dritten oder der Polizei eine rechte Tatmotivation zugeschrieben.
  • in den Umständen der Tat (bestimmte Äußerungen des Täters, seine Gesinnung oder Einbindung in die rechte Szene) lassen sich weitere Anhaltspunkte für die rechte Tatmotivation finden.
  • in rechten Tatmotivationen werden bestimmte Feindbilder wirksam: Rassismus, Hass auf Linke und Punks, Antisemitismus, Sozialdarwinismus gegenüber Obdachlosen und Behinderten, Hass auf Schwule und Lesben.
  • relevant sind die Zuschreibungen des Täters über das Opfer, nicht das tatsächliche Opfermerkmal. Z.B. kann sich eine rassistisch motivierte Gewalttat auch gegen eine Person richten, die irrtümlich für einen Migranten gehalten wurde.
  • sind neben rechten Tatmotiven auch andere, »unpolitische« Tatmotive erkennbar, so gilt die Tat als rechtsmotiviert, wenn das rechte Motiv tateskalierend wirkte.

Literatur

  • Heitmeyer, Wilhelm/Soeffner, Georg (Hrsg.) (2003): Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
  • Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2005): Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

links:

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