Rechte Gewalt durch Anhänger*innen der Coronaleugner-Bewegung und von Verschwörungsideologien forderte in 2021 fünf Todesopfer ++ Trotz teilweise massiver Pandemiebeschränkungen ereigneten sich täglich bis zu vier rechte Angriffe alleine in neun von 16 Bundesländern ++ Rassismus ist bei rund 2/3 der Fälle das dominante Tatmotiv ++ 1.830 Menschen waren 2021 von 1.391 politisch rechts motivierten Gewalttaten allein in Ostdeutschland, Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein direkt betroffen. ++
„Das sichtbare Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist dramatisch – trotz monatelanger pandemiebedingter Ausgangsbeschränkungen. Viele Menschen werden in ihrem direkten Lebens- und Wohnumfeld durch die unerträgliche Normalität von Antisemitismus und Rassismus massiv verletzt, bedroht und gedemütigt“, sagt Robert Kusche vom Vorstand des VBRG e.V. ++ Neben Rassismus und Rechtsextremismus in den Polizeibehörden muss auch die Justiz stärker in den Fokus genommen werden. „Wir ziehen mehr als zwei Jahre nach dem 19. Februar 2020 eine bittere Bilanz: Die Versprechen der Politik an uns als Hinterbliebene und Überlebende des Attentats von Hanau sind immer noch nicht erfüllt“, kritisiert Said Etris Hashemi, Bruder von Said Nesar Hashemi, Überlebender und Hinterbliebener des Attentats vom 19. Februar in Hanau. ++
In 2021 starben der 20-jährige Tankstellenmitarbeiter Alex W. in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) sowie drei Kinder und ihre Mutter in Senzig (Brandenburg) bei rechts motivierten Tötungsdelikten durch bewaffnete Anhänger von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung. Damit haben 17 Menschen seit 2019 durch Rechtsterrorismus, Rassismus und rechte Gewalt ihr Leben verloren. Die Angehörigen und die Überlebenden der rechtsterroristischen Attentate kämpfen weiterhin mit gravierenden Konsequenzen. „Der vielfach von Rassismus geprägte Umgang mit den Betroffenen durch Polizei und Justiz sowie rechtsextreme Netzwerke und Gruppen in Sicherheitsbehörden verstärken die Unsicherheit bei vielen Menschen“, sagt Robert Kusche vom VBRG e.V. Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen haben für das Jahr 2021 ein anhaltend hohes Niveau von rechten Gewalttaten in den ostdeutschen Bundesländern, Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dokumentiert.
- Trotz monatelanger Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Pandemie wurden 1.391 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe mit 1.830 Betroffenen registriert.
- Damit wurden in mehr als der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2021 täglich mindestens drei bis vier Menschen Opfer rechter Gewalt.
- Rassismus war auch 2021 – wie schon in den Vorjahren – das bei weitem häufigste Tatmotiv. Rund zwei Drittel aller Angriffe (816 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrungen und Schwarze Deutsche.
- Im Vergleich zu den Vorjahren wurde erneut ein Anstieg bei Angriffen gegen sogenannte politische Gegner*innen (317 Fälle) registriert.
- Unter den Betroffenen sind auch 51 Gewalttaten gegen Journalist*innen, die von der Coronaleugner-Bewegung als „Lügenpresse“ diffamiert, angegriffen und bedroht wurden.
- Fast ein Sechstel der Betroffenen sind besonders schutzbedürftige Kinder und Jugendliche (288 Betroffene).
Eine bittere Bilanz: Die Versprechen der Politik an die Hinterbliebenen und Überlebenden des Attentats von Hanau sind immer noch nicht erfüllt.
„Wir erwarten von der jetzigen Bundesregierung, dass Opfer von Terrorismus endlich eine unbürokratische Grundrente mit einer angemessenen Existenzsicherung erhalten“, betont Said Etris Hashemi weiter. „Denn das derzeitige sogenannte Opferentschädigungsgesetz ist ein bürokratisches Monstrum, das abgeschafft werden muss. Dessen Bestimmungen verhindern den Aufbau von Zukunftsperspektiven und degradieren uns zu Bittstellern – wie schon zu viele andere Überlebende und Hinterbliebene, etwa des OEZ-Attentats und des Oktoberfest-Attentats.“
Expert*innen warnen vor neuen rechten Bewegungen als Ausgangspunkt für rechte Gewalt und Rechtsterrorismus
„Seit Beginn der Pandemie sehen wir eine bedrohliche Zunahme von Bewaffnung und Tag-X-Terrorplänen in den rechten Bewegungen der Coronaleugner*innen, Anhänger*innen von Verschwörungsideologien und Reichsbürger*innen. Diese hat sich im dritten Pandemiejahr noch einmal verschärft. Die Auswirkungen zeigen sich auch in der Legitimierung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in diesen Milieus und Netzwerken“, warnt Pia Lamberty, Sozialpsychologin und Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie. Die Erfahrung von Straflosigkeit für permanente Regelbrüche und die Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus schaffen den Nährboden für schwerste Gewalttaten insbesondere gegen Menschen, die stellvertretend für ganze Gruppen als politische Gegner*innen angesehen werden.
Rechte Gewalt in 2021: Anstieg in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen, hohe Angriffszahlen in sechs anderen Bundesländern
In den ostdeutschen Bundesländern sowie in Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, in denen ein unabhängiges und einheitliches Monitoring rechter Gewalt durch die Opferberatungsstellen veröffentlicht wird, blieb die Anzahl der in 2021 registrierten rechten Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr konstant hoch. Die Entwicklung ist in den Bundesländern jedoch uneinheitlich. Gemessen an der Einwohnerzahl wurden im unabhängigen Monitoring die meisten rassistischen und rechten Gewalttaten in Berlin (9,1 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen), Sachsen-Anhalt (7,1 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen), Brandenburg (5,9 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und Thüringen (5,6 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) registriert.
- In Brandenburg, Thüringen und Nordrhein-Westfalen (1,9 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) hat rechte Gewalt im Vergleich zum Vorjahr zugenommen.
- In Berlin, Sachsen-Anhalt und Sachsen (4,6 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) bleibt rechte Gewalt mit einem minimalen Rückgang auf einem anhaltend hohen und besorgniserregenden Niveau.
- Allein in Mecklenburg-Vorpommern (4,1 Angriffe je 100.000 Einwohner*innen) konnte ein starker Rückgang registriert werden, der vor allem auf den nachhaltigen Vertrauensverlust in die Strafverfolgungsbehörden u.a. durch den „Nordkreuz“-Komplex sowie auf die Coronamaßnamen der letzten zwei Jahre zurückzuführen ist.
- Wie schon in den Vorjahren ist die Zahl erfasster rechter Gewalttaten in westdeutschen Flächenländern wie Schleswig-Holstein (2,6 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (1,9 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und Baden-Württemberg (0,61) im Vergleich zu Ostdeutschland und Berlin geringer.
Untererfassung rechter Gewalt durch Strafverfolgungsbehörden wächst und behindert wirksame Gegenmaßnahmen
Wie schon in den Vorjahren gehen die Opferberatungsstellen auch in 2021 von einer hohen Anzahl nicht registrierter rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten sowie von einer eklatanten Untererfassung von rassistischen, antisemitischen und rechten Tatmotivationen durch Polizei und Justiz aus. „Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt. Dies zeigt sich insbesondere auch bei der Verortung von Gewalttaten durch Anhänger*innen von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung in der polizeilichen Kategorie ‚PMK nicht zuzuordnen/verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates’“, sagt Robert Kusche. So wird etwa der Mord an Alex W. in Idar-Oberstein durch einen Anhänger von Verschwörungsideologien nicht als politisch rechts motiviertes Tötungsdelikt anerkannt, wohingegen die tödlichen Schüsse auf vier Angehörige der Familie R. in Senzig durch einen Anhänger der Coronaleugner-Bewegung als antisemitisch motiviertes Tötungsdelikt in der Kategorie ‚PMK Rechts gewertet’ wird. Oft ist es nur den Angegriffenen zu verdanken, dass rassistisch und rechts motivierte Gewalttaten durch Coronaleugner*innen und polizeibekannte Rassist*innen überhaupt bekannt werden – wie etwa bei dem Angriff auf die 17-jährige Dilan S. im Februar 2022 in Berlin. „Die rassistische Täter-Opfer-Umkehr, mit der die Polizei Berlin die Tatversion der Angreifer übernahm, ist kein Einzelfall“, betont Robert Kusche. Die nach wie vor mangel- und lückenhafte Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz verschleiert das Ausmaß der Bedrohung und Dimensionen rechter Gewalt und lässt die Betroffenen im Stich“, resümiert Robert Kusche.
Grafiken und Hintergrundinformationen finden sich hier.
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