++ In 2019 ereigneten sich täglich mindestens fünf rechte, rassistische und antisemitische Angriffe alleine in acht von 16 Bundesländern ++ Rassismus ist bei rund 2/3 der Fälle das Tatmotiv ++ 1.347 Fälle politisch rechts motivierter Gewalt allein in Ostdeutschland, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein mit 1.982 direkt Betroffenen. ++ „Drei Menschen starben in 2019 bei antisemitisch und rassistisch motivierten rechtsterroristischen Anschlägen, in diesem Jahr haben schon zehn Menschen durch Rechtsterrorismus und Rassismus ihr Leben verloren,“ sagt Judith Porath vom Vorstand des VBRG e.V. „In der Coronakrise sehen wir schon jetzt eine weitere Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus“, warnen Expert*innen. „Die Angegriffenen werden allzu oft alleine gelassen: mit ihren Forderungen nach Aufklärung, Strafverfolgung und ihrem Bedarf an unbürokratischer Unterstützung“, sagt Newroz Duman von der Initiative 19. Februar in Hanau. ++ Mehr als 50 prominente Vertreter*innen von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Parteien sowie Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer des NSU-Terrors bitten mit einem Offenen Brief an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, die Lücke bei der materiellen Unterstützung von Angegriffenen zu schließen. ++
Pressemitteilung des VBRG e.V. vom 12.05.2020
Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt haben für das Jahr 2019 ein hohes Niveau von rechten Gewalttaten in den fünf ostdeutschen Bundesländern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein dokumentiert. In den acht Bundesländern wurden 1.347 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe registriert. Damit wurden in der Hälfte aller Bundesländer im Jahr 2019 täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter Gewalt. Unter den 1.982 direkt davon Betroffenen stieg der Anteil von Kindern und Jugendlichen um 14 Prozent.
Rassismus war auch 2019 – wie schon in den Vorjahren – das bei weitem häufigste Tatmotiv. Rund zwei Drittel aller Angriffe (841 Fälle) waren rassistisch motiviert und richteten sich überwiegend gegen Menschen mit Migrations- oder Fluchterfahrung und Schwarze Deutsche. Eine weitere große Gruppe von Betroffenen rechter Gewalt sind (vermeintliche) politische Gegner*innen (221 Fälle).
Drei Menschen starben in 2019 bei antisemitisch und rassistisch motivierten rechtsterroristischen Anschlägen und in diesem Jahr haben schon zehn Menschen bei dem rechtsterroristischen, rassistisch motivierten Anschlag von Hanau ihr Leben verloren“, sagt Judith Porath vom Vorstand des VBRG e.V.: Am 2. Juni 2019 wurde Dr. Walter Lübcke als so genannter politischer Gegner in Istha bei Kassel (Hessen) regelrecht hingerichtet; die dringend Tatverdächtigen sind seit Jahrzehnten als militante Neonazis bekannt und organisiert. Am 9. Oktober 2019 überlebten mehr als 50 Menschen in der Synagoge von Halle (Saale) nur durch glückliche Umstände den antisemitischen Anschlag an Yom Kippur. Die Passantin Jana L. erschoss der Attentäter in unmittelbarer Nähe der Synagoge, bevor er den nahen „Kiez Döner“ stürmte, dort den Malerlehrling Kevin S. erschoss und weitere Kunden schwer verletzte.
Materielle Solidarität statt Schutzlosigkeit und Sonntagsreden
„Der Rechtsstaat lässt die Angegriffenen allzuoft im Stich“, sagt Newroz Duman von der Initiative 19 Februar in Hanau. „Ihre Forderungen nach transparenter Aufklärung und konsequenter Strafverfolgung werden ebenso ignoriert wie die klaren Warnsignale, die es vor dem Anschlag in Hanau aufgrund des Ausmaßes der legalen Bewaffnung des Täters und dessen rassistischen Bedrohungen von Jugendlichen in Hanau-Kesselstadt gab.“
„Die mit Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus verbundene Botschaft, dass die Angegriffenen vom Staat nicht geschützt werden, beeinflusst das demokratische Zusammenleben und den Alltag vieler Menschen, deren Privatadressen auf den Todes- und Feindeslisten der extremen Rechten kursieren“, betont Judith Porath vom VBRG. „Oft stehen die Angegriffenen buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz, ohne dass staatliche Unterstützung existiert.“
Mit einem Offenen Brief wenden sich daher mehr als 50 prominente Vertreter*innen von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Bürgerrechtsorganisationen, Intellektuelle, Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken sowie Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Hinterbliebenen und Opfer des NSU-Terrors an Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, um die bisherige Lücke bei den staatlichen Entschädigungsleistungen für die Angegriffenen zu schließen. „Die Hinterbliebenen und Überlebenden rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt benötigen dringend materielle Solidarität statt Sonntagsreden“, so Porath.
Expert*innen befürchten weitere Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus in der Coronakrise
„In der Coronakrise sehen wir schon jetzt eine weitere Normalisierung von Antisemitismus und Rassismus, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Teilhabe der Angegriffenen bedrohten“, warnen Newroz Duman sowie Prof. Gideon Botsch (Moses Mendelssohn Zentrum Universität Potsdam). „Bei einigen Protesten gegen die Infektionsschutzmaßnahmen der letzten Wochen tritt, bei aller Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden, der dauernd latent vorhandene Antisemitismus hinter dem Verschwörungsdenken nun offen zutage “, sagt Prof. Dr. Gideon Botsch. „Die sehr rasante Dynamik der Aufheizung seit ca. drei Wochen– von Regelverletzungen über aggressives Verhalten und Drohungen bis zu ersten Gewalttaten – lässt neue rechtsterroristische Radikalisierungsschübe befürchten.“
Rechte Gewalt in 2019: Rückgang in Ostdeutschland, Anstieg in Berlin
In den acht Bundesländern in Ostdeutschland, Berlin, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, in denen ein unabhängiges Monitoring rechter Gewalt durch die Opferberatungsstellen möglich ist, sank zwar die Anzahl der in 2019 registrierten rechten Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr um rund zehn Prozent. Die Entwicklung ist in den Bundesländern jedoch uneinheitlich. Gemessen an der Einwohnerzahl hat rassistische und rechte Gewalt in Berlin (10,7 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) im Vergleich zum Vorjahr deutlich zugenommen, in Sachsen-Anhalt (6,0 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen), Brandenburg (5,6 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen), Sachsen (5,5 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen), Mecklenburg-Vorpommern (5,5 Angriffe je 100.000 Einwohner*innen) und Thüringen (5,0 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) bleibt rechte Gewalt trotz des Rückgangsauf einem anhaltend hohen Niveau. Wie schon in den Vorjahren ist die Anzahl rechter Gewalt in westdeutschen Flächenländern wie Schleswig-Holstein (1,9 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) und im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen (1,1 Angriffe pro 100.000 Einwohner*innen) geringer.
Diskrepanz zwischen Zahlen der Beratungsstellen und Strafverfolgungsbehörden
In 2018 hatte das BKA für das gesamte Bundesgebiet lediglich 871 PMK Rechts Hassgewalttaten festgestellt, während die Opferberatungsstellen in den ostdeutschen Bundesländern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein im gleichen Jahr 1.495 rechte Angriffe für acht Bundesländer dokumentiert hatten. „Wir hoffen, dass die Diskrepanz zwischen den durch die Strafverfolgungsbehörden als PMK-Rechts Gewalttaten in 2019 registrierten Angriffen und den Zahlen der Opferberatungsstellen in diesem Jahr geringer ausfällt als im Vorjahr“, sagt Judith Porath.
Downloads:
Pressemitteilung des VBRG vom 12.05.2020
Grafiküberblick zur Jahresbilanz rechte Gewalt 2019 (folgt)
Rechte Angriffe im Vergleich 2009 bis 2019
Tatmotivationen Rechter Gewalt 2019
Straftatbestände Rechter Gewalt 2019 (folgt)
Rechte Gewalt 2019 Vergleich der Bundesländer
Betroffene Rechter Angriffe im Vergleich 2009 – 2019
Zählweise und Datenbasis des Monitoring der Mitgliedsorganisationen des VBRG e.V. (PDF)
Pressemitteilungen zu den Jahresbilanzen 2019 der Opferberatungsstellen:
Berlin: Pressemitteilung ReachOut Berlin vom 11.03.2020
Brandenburg: Pressemitteilung Opferperspektive e.V. vom 12.03.2019 / Jahresstatistiken 2002 – 2019
Mecklenburg-Vorpommern: Pressemitteilung LOBBI vom 26.03.2019
Nordrhein-Westfalen: Pressemitteilung Opferberatung Rheinland [OBR] und BackUp vom 27.04.2020
Sachsen-Anhalt: Pressemitteilung Mobile Opferberatung Sachsen-Anhalt vom 04.04.2020
Sachsen: Pressemitteilung des RAA Sachsen e.V. vom 18.03.2020 / Jahresstatistiken 2006 – 2019
Schleswig-Holstein: Pressemitteilung zebra e.V. vom 26.03.2020
Thüringen: Pressemitteilung Opferberatungsstelle ezra vom 18.03.2020