Störende Faktoren – Für demokratische Partizipation im ländlichen Raum

Wolfram Hülsemann (li.) mit Anna Spangenberg (Aktionsbündnis) und dem Rheinsberger Bürgermeister Manfred Richter (Foto: Aktionsbündnis)
Wolfram Hülsemann (li.) mit Anna Spangenberg (Aktionsbündnis) und dem Rheinsberger Bürgermeister Manfred Richter (Foto: Aktionsbündnis)

Ich bin mir unsicher, ob das, was an Besonderheiten für den ländlichen Raum zu beschreiben ist, als Störung bezeichnet werden sollte. Wir haben das Problem, dass die Situation und die Perspektiven des ländlichen Raums häufig von der Stadt, aus einer urban geprägten Sicht, wahrgenommen und veröffentlicht werden. Um dem Prinzip unserer Arbeit, »Hilfe zur Selbsthilfe«, gerecht werden zu können, haben auch wir als Beraterinnen und Berater erst verstehen müssen, dass die »Uhr im Dorfe anders tickt«, wie es meine Kolleginnen und Kollegen manchmal formulieren. Wir mussten lernen, dass das Dorf etwas anderes ist als die Stadt, etwas anderes als ein »Siedlungsgebiet«, dass es vielmehr ein gewachsener, mit vielfältigen Brüchen existierender Raum ist. Demografie, Strukturwandel und Abwanderung sind Stichworte, die uns allen in diesen Zusammenhängen längst vertraut geworden sind.

Dass Dörfer die Fragen der eigenen Identität anders beantworten als urbane Gebilde, ist uns allen bekannt. So werden Kommunikation und Kooperationsverhalten immer auch unter dem Gesichtspunkt allgemeiner sozialer Kontrolle gestaltet. Menschen in Dörfern sind leichter auf Eigenverantwortung anzusprechen. Das ist vorteilhaft, zugleich aber sind bei einer Überbetonung des »Eigenen« nachteilige Abschottungsbedürfnisse zu beschreiben. Zugehörigkeit und Weltoffenheit, letzteres eigentlich ein Fremdwort im Dorf, stehen hier in besonderer Spannung.

Wir halten es für sinnvoll, Struktur verändernde Entscheidungen und Prozesse unter diesen Gesichtspunkten kritisch zu beleuchten. Ich denke etwa an die Gemeindegebietsreform, die Dörfer den nächst größeren Städten zugeschlagen hat. Dass dabei die soziokulturellen Differenzen zwischen Stadt und Land nicht angemessen berücksichtigt wurden, kann man hier in Rheinsberg beispielhaft ablesen. Die Menschen in den Dörfern fühlen sich tendenziell fremdbestimmt, ihrer Identität beraubt und entmündigt. Sie reagieren oftmals mit Desinteresse und Verweigerung, was die Beteiligung an der Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens angeht. Ihrem Ärger machen sie dann bei Themen Luft, die für die Entwicklung neuer Perspektiven wichtig sind. Ich kann die Politik auf allen Ebenen deshalb nur ermuntern, soziokulturelle Fragestellungen bei der Entwicklung von Konzepten für notwendige gravierende Veränderungen stärker mit einzubeziehen.

Demokratische Achtsamkeit stärken

Das demokratische Gemeinwesen braucht das Offenlegen unterschiedlicher Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger. Demokratie lebt vom Diskurs und der Suche nach vertretbaren Kompromissen. Das ist, nicht nur in Dörfern, eine schwierige Sache! Hier aber konkurriert dieses demokratische »essential« mit einem Sozialverhalten, dass immer auch das dörfliche Leben gestützt hat: die so genannte soziale Kontrolle. Was gut und richtig ist, was hier gelten soll, bestimmen Mehrheitsmeinung und Meinungsführer. Dadurch wird zwar meist ein angemessenes Sozialverhalten gesichert. Wenn aber die Mehrheitsmeinung demokratischen Grundwerten indifferent oder ablehnend gegenüber steht, ist ein öffentlicher Diskurs kaum zu befördern. Das beste Beispiel aus jüngster Zeit sind die Vorgänge um die Kameradschaft Freikorps im Havelland, eine Gruppe junger Leute, die Imbissstände anzündete und Menschenleben in Gefahr brachte. Es kann als gesichert gelten, dass verbreitete Ressentiments gegenüber Menschen nichtdeutscher Herkunft und die beschriebene soziale Kontrolle maßgeblich dazu beitrugen, dass niemand dort die Vorgänge öffentlich thematisierte. Es wäre gut, und dem gilt unser Bemühen, gegenüber wertindifferenter sozialer Kontrolle die demokratische Achtsamkeit unter Bürgerinnen und Bürgern zu stärken. Auf den ländlichen Raum zugeschnittene demokratische Beteiligungsprojekte, etwa in der Form von Zukunftskonferenzen und Zukunftswerkstätten, können eine demokratische Diskurskultur befördern und Wertschätzung vermitteln, wo immer stärker das Gefühl des »Abgehängt sein« zu spüren ist.

Das Dorf bietet die Chance, sich leichter zu verabreden, um etwas für das Gemeinsame zu bewerkstelligen. Vereine und Kirchengemeinden sind oft die Orte, an denen im Dorf und in der kleinen Stadt das Gemeinsame gelebt wird. Ich mache gern darauf aufmerksam, dass wir, anders als in der Stadt, nicht immer von außen neue Plattformen gegen Rechtsextremismus und Rassismus initiieren müssen. Wir suchen stattdessen Wege mit diesen Zusammenschlüssen, damit sie sich selbst mit den anstehenden Fragen auseinander setzen lernen. Das ist, so die Erfahrung, ein meist mühsamer Weg, aber häufig einer mit nachhaltigen Ergebnissen. Zudem haben wir den Vorteil, dass wir an der Basis Menschen erreichen und dafür zugleich von den Dachorganisationen Unterstützung erfahren. Ich denke dabei etwa an den Verband der Freiwilligen Feuerwehr, den Fußballverband, die Johanniter, die Evangelische Landeskirche und viele andere mehr.

Demokratische Achtsamkeit stärke

Abschließend will ich betonen, dass bei all diesen Fragestellungen darauf zu achten ist, dass rassistische Einstellungen und der Rechtsextremismus in seinen unterschiedlichen sozialen Gestalten nicht erst seit 1990 zu beschreiben sind. Jenseits des »verordneten Antifaschismus« gab es in der DDR Überzeugungen und geschichtsrevisionistische Erzählweisen über die Nazizeit, die weitgehend unveröffentlicht blieben. Den meisten von Ihnen ist bekannt, dass sich in den Städten sogar eine manifeste rechtsextreme Jugendkultur ausbilden konnte. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, weil ich an zwei Prozessen gegen solche Gruppen in Berlin habe teilnehmen können. In den dörflichen Familien wurde nach meinen Erfahrungen nur im geschützten Raum positiv über die Nazizeit berichtet, wobei eigene Erfahrungen, etwa aus der Hitlerjugend, und Kriegserlebnisse den Ausgangspunkt bildeten. Häufig wurde der Kriegsausgang als widrigen Umständen geschuldet beschrieben. Das öffentlich zu thematisieren, sich in den Generationen damit auseinander zu setzen, war aus bekannten Gründen zu DDR-Zeiten tabuisiert. Eine Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus fand nicht statt. Jeder wusste zwar von den mehr als sechs Millionen ermordeten Juden, was das aber eigentlich für Leute waren, wusste niemand zu sagen. Ich habe entsprechende Haltungen und Auseinandersetzungen dazu in Dörfern schon vor vielen Jahren erlebt. Es ist vor diesem Hintergrund zu sehen, dass heute in Brandenburger Dörfern unwidersprochen Kriegerdenkmäler aus der Zeit nach 1918 zu Heldengedenkstätten umgestaltet werden, die auch den Gefallenen des Zweiten Weltkrieges gewidmet sind. Geschichtswerkstätten und sozialgeschichtlich angelegte Projekte könnten spannende Auseinandersetzungen in unseren Dörfern befördern. Bis auf eine Geschichtswerkstatt konnten wir in den vergangenen Jahren leider kein weiteres Projekt initiieren.

Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt dem Dorf, den ländlichen Räumen. Wir sind der Überzeugung, dass deren Entwicklung auch wesentlich die städtischen Bereiche beeinflusst – so oder so. Wir können beschreiben, dass sich die Kameradschaften und die NPD diese Erkenntnis längst zu Eigen gemacht haben und der organisierte Rechtsextremismus seine Strategien darauf langfristig abstimmt.

Aktuelles