Im Herbst 1996 schlägt ein Neonazi zu, seitdem ist ein Italiener schwer behindert. Sein Name: Giamblanco. Wie geht es ihm heute?
Die Kraft lässt nach. Der Stahlbügel gleitet aus den Händen, saust hoch und schwingt durch die Luft. Orazio Giamblanco stöhnt und senkt den Kopf. Er will nicht aufgeben, nicht jetzt schon. Das stählerne Gerät soll ihn nicht bezwingen, schon gar nicht nach nur zwei Minuten. Der kleine, kompakte Italiener mustert den turmartigen Apparat mit den flachen, aufeinandergestapelten Gewichten, die über Drahtseile mit dem Stahlbügel verbunden sind. Orazio streckt den rechten Arm hoch. Er greift ins Leere.
Es ist November und schon jetzt lässt sich sagen: Das Jahr war nicht gut für den schwer behinderten Mann aus Sizilien. Die Frustration am Seilzuggerät im Gymnastikraum des Franziskus-Hospitals in Bielefeld wirkt da wie ein kleines, negatives Ausrufezeichen. Und es ist nicht das einzige. In einem Jahr, das noch schlechter war als die schlechten Jahre zuvor. Gute gibt es für den 73 Jahre alten Orazio, seine 64-jährige griechische Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia Berdes, 41 Jahre alt, schon lange nicht mehr. In einem Alltag zwischen Rollator und Rollstuhl.
Am 30. September 1996 schwang in Trebbin, einer Stadt südlich von Berlin, ein rechter Skinhead seine Baseballkeule. Sie traf Orazio, erst kurz zuvor als Hilfsbauarbeiter nach Brandenburg gekommen, mit Wucht am Kopf. Ärzte bewahrten Orazio mit Notoperationen vor dem Tod, aber die spastische Lähmung, die ständigen Schmerzen, die Sprachstörung, die Depressionen, auch die seit Jahren chronischen Magenprobleme lassen ihn den Keulenschlag Tag für Tag spüren. Erst recht, wenn Beschwerden hinzukommen, die schon ein „normaler“ Mensch nicht so leicht wegsteckt.
Anfang November war wieder eine Notoperation fällig. Nicht so dramatisch wie 1996 im Krankenhaus Luckenwalde, aber unangenehm genug. „Er hatte Gallensteine, die rieben aneinander“, sagt Thorsten Franz, Oberarzt im Franziskus-Hospital. „Die Gallenblase hatte sich entzündet, wir mussten sie in einer Not-OP entfernen.“ Zuvor hatte Orazio noch mehr gelitten als sonst.
Anfang 1997 hat ihn der Tagesspiegel erstmals besucht. Und seitdem Jahr für Jahr. Längst ist eine Freundschaft entstanden, deshalb ist hier auch von Orazio, Angelica und Efi die Rede. Die Reportagen sind als beispielhafte Erzählung gedacht, als Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt. Von denen es seit der Wiedervereinigung wohl mehr als 10 000 gibt, zusätzlich zu über 70 Todesopfern, folgt man den Statistiken der Polizei zu rassistischer und sonst wie rechter Gewalt.
Natürlich werden nicht alle Menschen, die von Neonazis und anderen Rechtsextremisten attackiert wurden, so schwer, ja unheilbar verletzt sein wie Orazio. Aber es gibt sie, auch wenn die Öffentlichkeit sie nicht kennt. Und wie viele Menschen, die physisch wieder genesen sind, quälen sich mit psychischen Spätfolgen, mit Ängsten, mit Traumata? Die gerade dieses Jahr verstärkt werden durch die vielen Horrormeldungen zu Anschlägen auf Unterkünfte für Flüchtlinge.
Was er da im Fernsehen zu sehen bekommt, hat Orazio auch belastet, genauso wie die Schreckensbilder der Terrorangriffe vom Januar und jetzt wieder in Paris. „Habe Angst bekommen“, sagt er. Auch Angelica und Efi wird mulmig. „Schreckliche Zeiten“, klagt Angelica. Auch Efi ist verunsichert, „kann man noch in ein Café gehen, ohne dass da eine Bombe liegt?“ Doch dann kommt ein Spruch, der von Stärke kündet, trotz allen Leidens der drei und ihrer körperlichen und auch seelischen Erschöpfung. „Hauptsache, die Familie bleibt zusammen“, sagt Efi, „das ist das Wichtigste.“
Efi hat sich einen Tag freigenommen in der Schokoladenfabrik, in der sie als Produktionshelferin arbeitet. Sie ist mitgekommen zur Krankengymnastik, sonst macht das meist ihre Mutter Angelica. Efi steht nun neben Orazio, als er sich am Seilzuggerät abmüht. Sie legt einen Arm auf seine Schulter, als er aufgibt.
Efi selbst und die Mutter sind am Rande ihrer Kraft. Die jahrelange Pflege von Orazio überfordert die Frauen, trotzdem halten sie durch. Das hat Folgen. Vor zwei Jahren erkrankte Efi an Depressionen und konnte monatelang nicht arbeiten. Sie geht auch heute noch zum Psychologen: „Der schimpft, dass ich nicht so oft komme.“ Sie versucht, ihre Krankheit zu verdrängen. Aber dann spricht sie von Schlafstörungen. „Wenn das passiert, nehme ich wieder mehr von den starken Tabletten.“ Eine Beziehung zu einem Mann hatte sie schon lange nicht mehr. Über den Wunsch, eine Familie zu gründen, „denke ich nicht mehr nach“.
Der Mutter geht es nicht besser. Auch Angelica, die seit Orazios „Unfall“, wie sie es nennt, nicht mehr arbeitet und sich nur der Hilfe für Orazio widmet, sucht regelmäßig den Psychologen auf. Außerdem leidet sie unter Bluthochdruck. Und dann mussten auch die Frauen dieses Jahr noch Schicksalsschläge hinnehmen. Kurz vor dem geplanten jährlichen Urlaub in Orazios Heimat Sizilien, den sie immer mit den Spenden der Tagesspiegel-Leser finanzieren und der den dreien guttut.
Im Sommer starb in Griechenland Efis Cousine Maria nach einem Schlaganfall. Maria war zwei Jahre älter als Efi. Nur Tage nach ihrem Tod erlitt auch Marias Vater einen Schlaganfall. „Das war eine Katstrophe“, sagt Efi. Vor allem ihrer Cousine war sie innig verbunden. Und Orazio erinnert sich, „Maria hatte viel Wärme, hat mir das Gesicht gestreichelt“.
Orazio und die beiden Frauen stornierten in letzter Minute die Reise nach Sizilien und flogen nach Griechenland. „Wir haben unserer Familie in Patras geholfen“, sagt Angelica.
Der Täter weiß davon nichts. Jan W. ist dieses Jahr nicht zu erreichen. Vermutlich will er nicht mehr mit der Presse sprechen. Er ist schon lange wieder frei, die 1997 vom Landgericht Potsdam verhängten 15 Jahre Haft musste er nur zum Teil verbüßen. Jan W. hat mit der rechten Szene gebrochen und bereut seine Tat. 2006 gab er dem Tagesspiegel zwei Briefe nach Bielefeld mit, in denen er sich bei Orazio und den Frauen entschuldigt. Die drei haben ihm verziehen.
Sie hoffen, dass 2016 etwas besser wird. Dass sie wieder nach Sizilien fahren können, wo sich Orazio so wohl fühlt. „Da freut er sich, das ist für uns alle gut“, sagt Angelica. Orazio lächelt. „Er gibt sich nicht auf“, hat im Franziskus-Hospital der Physiotherapeut Andreas Schneider gesagt, der Orazio betreut. „Er ist ein Kämpfer.“ Und „ein ganz wichtiger Faktor ist, wie die Frauen ihn unterstützen – besonders wenn seine Behinderung andere Probleme noch schlimmer macht.“
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