In Potzlow, einem kleinen Dorf in der Uckermark, erschlugen drei junge Männer am 12. Juli 2002 den 16-jährigen Marinus Schöberl. Seine weiten Hosen galten ihnen als Zeichen von Hip-Hop-Kultur. Sie nannten ihn einen »Juden« und ärgerten sich über die blondierten Haare, mit denen er versuche, »arisch« auszusehen. Mehrere Stunden quälten sie ihr Opfer, bis der Junge reglos dalag und sein Körper verstümmelt war. Die Leiche warfen sie in eine Jauchegrube, wo sie im November, vier Monate später, gefunden wurde. Einer der Täter hatte in einem lokalen Jugendclub um 20 Euro gewettet, dass er wisse, wo die sterblichen Überreste zu finden seien. Es stellte sich schnell heraus, dass das Opfer seine Peiniger gekannt hatte. Es stellte sich auch heraus, dass die Quälerei in einer Wohnung ihren Anfang genommen hatte, deren Mieter, ein Paar in den Vierzigern, der Tortur zusahen und schwiegen. Es stellte sich weiter heraus, dass einer der Täter ein einschlägig vorbestrafter und inhaftierter Rechtsextremist war, der vier Wochen, nach dem er Marinus Schöberl zu Tode gequält hatte, in Prenzlau den Asylbewerber Neil D. misshandelt und schwer verletzt hatte.
Wenige Tage nach der Festnahme der drei Haupttäter ließ der ermittelnde Staatsanwalt keinen Zweifel an deren Gesinnung: »Sie gehören ganz deutlich der extremen rechtsradikalen Szene an.« Ihre Tat, so der Staatsanwalt weiter, sei »so furchtbar, dass wir sie auch nicht ansatzweise in der Öffentlichkeit preisgeben können«. Auf Grund der besonderen Brutalität wurde der »Mord von Potzlow« zum Medien- und Politikereignis. Nach einer Erklärung der Bluttat suchend, pilgerten KorrespondentInnen in die Region, um im Sozialraum Uckermark Hintergründe auszuleuchten: Rechte Gewalttaten in der Vergangenheit, mangelnde Freizeitangebote, geschlossene Landwirtschaftsbetriebe, Jugendarbeitslosigkeit. Prominente PolitikerInnen sahen in der Tat ein Zeichen »seelischer Verwahrlosung« und eine Gewalt am Werk, »die sich wahllos ihr Opfer suchte«. Die Nichtigkeit des Anlasses und die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer – wie vielfach berichtet – um einen »ganz normalen Jungen« gehandelt habe, schienen die These zu belegen.
Hegemonie rechter Jugendkultur
Man kann mit großer Sicherheit annehmen, dass die Wahrnehmung der Gewalt als wahllos darauf zurückzuführen ist, dass dem Opfer die gängigen sozialen Merkmale fehlen, die Opfern rechter Gewalttaten zugeschrieben werden. Ein Angriff auf einen dunkelhäutigen Jugendlichen hätte kaum den Gedanken der Zufälligkeit des Opfers aufkommen lassen, ist doch der rassistische Kontext solcher Taten hinlänglich bekannt. Warum aber musste Marinus Schöberl sterben? Das öffentliche Entsetzen und Nachdenken ließ einen naheliegenden Zusammenhang fast unbeachtet: Jeder zweite rechte Angriff in Brandenburg trifft einen männlichen Jugendlichen deutscher Staatsangehörigkeit. Von den 140 Opfern rechter Gewalt, die der Opferperspektive im Jahr 2002 bekannt wurden, sind fast die Hälfte deutsche Jugendliche. Viele sind Angehörige von Jugendkulturen wie Punks, SkaterInnen oder Hip-HopperInnen, manche sind linksorientiert und politisch engagiert. Über einige der Betroffenen kann in solchen Kategorien nur gesagt werden, dass sie nicht der rechten Jugendkultur angehören. Oft haben die Angriffe nichtige Anlässe: An der Kleidung, der Haartracht oder dem bevorzugten Musikstil identifizieren die Täter ihre Opfer als Menschen, die sich der rechtsextremen Jugendkultur nicht unterordnen oder gar widersetzen. Gerade in kleineren Städten und Gemeinden kommt es vor, dass die zumeist etwa gleichaltrigen Täter und Opfer flüchtig bekannt sind. In solchen Fällen ist die erfolgte Zuordnung zu einer bestimmten Szene (»Hip- Hopper«) hinreichend, um von der beständigen Gefahr eines Angriffs ausgehen zu müssen. Oft konzentrieren sich rechtsextreme Angriffe auf Jugendclubs und Treffpunkte, in denen eine alternative Jugendkultur öffentlich präsent ist. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist die Jugendbegegnungsstätte (JUBS) in Eisenhüttenstadt, wo die Opferperspektive in enger Kooperation mit der Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt Frankfurt (Oder) seit 2001 mehrere Jugendliche beraten und betreut hat.
Viele der BesucherInnen des JUBS, bei denen es sich überwiegend um Jugendliche aus der Hip-Hop- und Skaterszene handelt, berichteten den OpferberaterInnen von Angriffen, denen sie oder ihre FreundInnen zum Opfer gefallen waren. Im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen gegen zwei Täter, die am 15. Juni 2001 vier Jugendliche angegriffen hatten, bestätigte sich explizit, dass die Opfer allein deshalb attackiert wurden, weil sie als Angehörige der Hip-Hop-Szene erkannt worden waren. Die Gefahr eines Angriffs gehört zum Alltag der Jugendlichen.
In Eisenhüttenstadt hat sich eine rechte Jugendkultur herausgebildet, die vor allem durch lose Cliquen getragen wird. Sie bildet unter Jugendlichen, wie in vielen Orten und Regionen Brandenburgs, eine gesellschaftliche Norm. Mehrere KlientInnen berichteten, dass sie in ihren Schulklassen oder bei ihrer Ausbildung die einzigen sind, die sich offen zu ihrer nicht-rechten Haltung bekennen. Das JUBS ist einer der wenigen Orte, an denen sich nicht-rechte Jugendliche treffen können, ohne mit Pöbeleien oder Angriffen rechnen zu müssen. Jugendliche, die unter dem Druck einer dominanten rechten Jugendkultur stehen, verdrängen häufig die fortdauernde Gefahr oder reagieren mit passivem Vermeidungsverhalten. Fast alle Jugendlichen kennen die kulturellen Codes der Rechten, wissen, wie sie aussehen und wo sie sich treffen. Es bildet sich ein kollektives Wissen darüber, welche Orte zu welchen Zeiten zu meiden sind. Betroffene, die in der Regel nicht auf Erfahrungen und Netzwerke aus einem politischen Engagement zurückgreifen können, wissen einfach nicht, wie sie rechtsextremen Gewalttaten aktiv begegnen können. Sie haben keine Erfahrung im Umgang mit Medien und kommunalpolitisch Verantwortlichen, kennen die Arbeitsweise der Strafverfolgungsorgane ebenso wenig wie ihre Rechte in den entsprechenden Verfahren.
Kaum Unterstützung für die Opfer
Zugleich machen Jugendliche regelmäßig die Erfahrung, dass sie von kommunalpolitischen Akteuren und der Polizei nicht ernst genommen werden. Allzu oft werden rechte Angriffe auf Jugendliche als Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendgruppen dargestellt. Schlechte Erfahrungen Einzelner sprechen sich herum, die Folge ist ein auch im sozialen Umfeld der Betroffenen geringes Vertrauen in politische Instanzen und die Arbeit der Strafverfolgungsorgane. So entstand im Fall der vier angegriffenen Hip-Hopper bei der telefonischen Meldung des Angriffs über die Notrufnummer 110 sehr schnell der Eindruck, dass von der Polizei keine Hilfe zu erwarten sei. Im späteren Verlauf wurde dazu noch das Ermittlungsverfahren eingestellt. Erst durch einen Widerspruch und die Weiterleitung des Namens eines Tatverdächtigen an die Polizei durch die OpferberaterInnen konnte die Wiederaufnahme des Verfahrens erwirkt werden.
Diese negative Dynamik liefert einen maßgeblichen Grund dafür, warum die Bereitschaft jugendlicher Opfer zur Anzeigenstellung so gering ist. Selbst bei schweren Angriffen, wie im Fall einer Jugendlichen, die am 25. Februar 2001 in Eisenhüttenstadt mit einem Messer im Gesicht verletzt wurde, sehen die Betroffenen keinen Sinn in einer Anzeige. Hinzu kommt die Angst vor möglichen Racheakten, was durch diesbezügliche Ankündigungen der Täter – einer der vier betroffenen Hip-Hopper erhielt eine Drohung per SMS – verstärkt wird. Insgesamt kann angenommen werden, dass die Dunkelziffer in diesem Bereich hoch ist und dass viele der 40 von der Opferperspektive dokumentierten Angriffe, die 2002 nicht in polizeiliche Statistiken Eingang fanden, Jugendliche betrafen. Auch in der Beratungsarbeit zeigt sich die Passivität vieler Betroffener: Gemessen an den Angriffszahlen liegt der prozentuale Anteil der Jugendlichen, die eine Beratung suchen, sehr niedrig.
In der Konsequenz bleiben rechte Angriffe allzu oft ohne strafrechtliche Folgen, was die Täter bestärkt und auch ihr Selbstbild intakt belässt, das von eigener Überlegenheit und einem diffusen Gefühl der Legitimierung ihres Handelns durch Teile der Bevölkerung geprägt ist. Bei den Opfern und den potentiell Betroffenen werden Gefühle von Rat- und Ausweglosigkeit bestätigt, die letztlich das Einrichten in einer Atmosphäre von permanenter Bedrohung als einzig gangbaren Weg erscheinen lassen.
Alternativen zum rechten Mainstream
Die OpferberaterInnen konnten in Eisenhüttenstadt den Clubrat der JUBS dazu gewinnen, eine Presseerklärung herauszugeben, in der auf die Lage der Betroffenen aufmerksam gemacht wurde, was zu Berichten in lokalen und überregionalen Tageszeitungen führte. Darauf aufbauend wurde eine Anfrage an die Stadtverordnetenversammlung bezüglich der Fälle rechter Gewalt erarbeitet, die Diskussionen in der Kommune auslöste. Das BeraterInnenteam organisierten eine Aussprache zwischen den Betroffenen und Eisenhüttenstädter Polizeibeamten, die vom Mobilen Beratungsteam moderiert wurde. Um die Handlungskompetenz der Jugendlichen im kommunalen Kontext zu steigern, veranstaltete die Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt im JUBS ein Planspiel, in dem eine Stadt mit ihren wichtigsten Institutionen (Verwaltung, Politik, Medien etc.) simuliert wurde. Durch diese Aktivitäten gelang es, den Jugendlichen Möglichkeiten aufzuzeigen, ihre Interessen in der Kommune wirksam zu kommunizieren, wenn auch festgehalten werden muss, dass die hohe Fluktuation unter den BesucherInnen nachhaltigen Effekten entgegensteht.
Einen ähnlichen Fortbildungsbedarf kann man in kommunalen Institutionen vermuten. In der Regel haben die Verantwortlichen weder die Kompetenz noch wirkliches Interesse an der Lebenswelt von Jugendlichen und ihren kulturellen und sozialen Aktivitäten. Für den Kampf gegen Rechtsextremismus aber kommt es einer Katastrophe gleich, wenn kommunale Akteure die Bedrohung demokratischer und alternativer Jugendlichen nicht ernst nehmen und ihnen die Unterstützung versagen. Die Banalisierung rechter Gewalt verkennt, dass es nicht um Jugendprobleme, sondern um die Kontrolle des öffentlichen Raums geht. Angetrieben von ihrer rechtsextremen Vorstellungswelt und dem Glauben an ihre Überlegenheit, versuchen die rechten Schläger, »national befreiten Zonen« durchzusetzen, in denen für demokratisch und humanistisch orientierte Jugendkulturen kein Platz ist. Wenn es dann zu exzessiven Gewalttaten kommt und auch jene, die sich bis dahin nicht mit Jugendproblemen befassen wollten, dringenden Handlungsbedarf entdecken, sind bereits Fakten geschaffen, die sich kurzfristig nicht mehr ändern lassen. Ohne konkrete Alternativen zum rechten Mainstream in der Jugendkultur können Bündnisse gegen Rechts und Appelle an die Toleranz kaum greifen.
Aktuelles, Pressemitteilungen Jahrbuch 2002, Opferperspektive