Er sitzt da in seiner Bielefelder Wohnung, die Augen weit offen, als müssten sie beim Sprechen helfen. »Hat mich kaputtgemacht«, stammelt Orazio Giamblanco. Er ist schwer zu verstehen. Der Italiener kann nur nuscheln, in kurzen, abgehackten Sätzen. »Ich weiß nichts über den Tag. Ich habe die Leute nicht gekannt.« Giamblanco lehnt sich zurück, den Blick auf die Wand gegenüber gerichtet. »Warum?« Die Augen füllen sich mit Tränen. Giamblanco, ein kleiner, kompakter Mann von 61 Jahren, senkt den Kopf. Stille. Luftholen. »Ich bin kein Mensch mehr. Aber keine andere Wahl. Habe geschafft sechs Jahre. Muss weitergehen.«
Eine Woche zuvor, in einer Anwaltskanzlei in Berlin. Der kräftige Mann, die gegelten Haare gescheitelt, setzt mit leichtem Zittern den Kaffeebecher ab. »Ich hab’ ja in dem Moment nich’ nachgedacht.« Jan Weicht fixiert einen imaginären Punkt auf der Tischplatte. »Det schmerzt ja immer wieder aufs Neue, auch bei mir!« Aus den Augen laufen Tränen. »Die janze Situation is’ so aus den Fugen gelaufen.« Der 28-Jährige umklammert den Becher, hebt ihn hoch, trinkt nicht, setzt ihn wieder ab. »Jeder fragt, warum«, die Tränen tropfen auf den Tisch. »Is’ ja nich’ nur die Familie von Herrn Giamblanco! Is’ ja meene ooch! Und ich selber ooch!«
Die beiden Männer sind einfache, aber typische Figuren aus dem dunkelsten Kapitel der Geschichte des wiedervereinten Deutschland. Jan Weicht war Skinhead. Orazio Giamblanco ist sein Opfer. Am Abend des 30. September 1996 schlägt Weicht im brandenburgischen Trebbin mit einer Baseballkeule Giamblanco fast tot. Kurz darauf stellt sich der Skinhead. Im April 1997 verurteilt ihn das Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes, zu verbüßen im Gefängnis Brandenburg/Havel. Im Sommer 2001 sagt sich Weicht von der rechten Szene los. Er bringt frühere Kumpane vor Gericht und will sich bei Orazio Giamblanco entschuldigen. Stopp, zurück – entschuldigen? Ist das überhaupt möglich?
Allein der Wunsch bereitet dem Täter und dem Opfer, das davon über den Tagesspiegel erfährt, höllische Schmerzen. Beide Männer kehren im Kopf an den Anfang der Tragödie zurück, die nahezu exemplarisch für die unzähligen rechten Gewalttaten im Osten steht. Mündet sie nun in eine Versöhnung?
Weicht und Giamblanco haben sich nur einmal getroffen, an jenem Spätsommerabend. Giamblanco, erst vor wenigen Tagen angereist, ist Hilfsbauarbeiter. Mit zwei italienischen Kollegen geht er zur gemeinsamen Unterkunft. Giamblanco will noch aus einem Telefonhäuschen bei seiner Freundin in Bielefeld anrufen. Der glatzköpfige Bundeswehrrekrut Weicht und sein ebenso kahlgeschorener Freund mit dem makaber mediterran klingenden Vornamen Francesco fahren im Trabant durch die Kleinstadt. Auf der Rückbank sitzen zwei Mädchen, die Skins haben sie gerade kennengelernt. Gegen 22 Uhr 15 sehen sie die Italiener, nahe der Telefonzelle.
Kurz darauf schwingt Weicht seine Baseballkeule. Er trifft Giamblanco an der linken Schläfe. Francesco H. zückt eine Schreckschusspistole und tritt einem der anderen Italiener gegen den Hals. Dann steigen die beiden Skinheads wieder ins Auto. Weicht sinniert kurz, er habe »wohl zu doll« zugeschlagen. Dennoch fahren sie weg. Orazio Giamblanco liegt vor der Telefonz am 9.12.2007elle. Im Koma.
Er hat überlebt. Doch ein Leben wie vor dem 30. September 1996 ist für Giamblanco, seine Lebensgefährtin und deren Tochter nicht mehr möglich. Der Italiener ist schwerst behindert. Er leidet an spastischer Lähmung, kann nur kurze Strecken an Krücken laufen. Seine Sprache ist auf schwer verständliche Satzfetzen reduziert. Er hat Depressionen, Albträume – und Angst, auch vor dem Tag, an dem der Täter entlassen wird. Obwohl Weicht ein anderer zu sein scheint als der Schläger von damals.
Der Bruch mit der Szene
Wer ist Jan Weicht? Aufgewachsen in Trebbin, absolviert er nach dem Abschluss der achten Klasse erst eine Lehre als Melker, dann noch eine als Maurer. »So ’94, ’95« gerät er in die rechte Szene, »weil mich die Korruption ankotzt« und kriminelle Ausländer in Deutschland nichts zu suchen hätten. 1996 Wehrdienst. Die Eltern sind geschieden. Weichts großer Rückhalt ist die Mutter.
Bei dem Termin in der Berliner Anwaltskanzlei, für den er Sonderausgang bekommen hat, wirkt Weicht wie ein unauffälliger Sportsweartyp. Kraftvoll, aber auch überraschend empfindsam. Als die Tränen auf dem Tisch getrocknet sind, erzählt Weicht vom Bruch mit der rechten Szene. Das, was er erzählen will.
Bis zum Sommer 2000 hat Weicht Kontakt zu den Sauf- und Raufkumpels aus Trebbin. Die »Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene«, ein Neonazi-Verein, »kümmert« sich um ihn, den Helden. Sein Anwalt ist Hans Günter Eisenecker, Spitzenfunktionär der NPD. Im Jahr 2000 erreicht den Häftling in seiner Einzelzelle ein Brief. Francesco H., der zu acht Jahren verurteilte Mittäter, kündigt ihm die Freundschaft auf: »Richtige Freundschaft gibt es nicht mehr.« Der Satz trifft Jan Weicht. »Ich hab’ gedacht, wat is’n det? Et gab’ doch die Parole, einer für alle, alle für einen.«
Weicht fühlt sich verraten. Francesco H. hat sich offenbar auf die Seite der Kumpel in Trebbin geschlagen, »die mir all die Jahre verarscht haben«. Weicht und H. sind die Einzigen, die für die Trebbiner Randalenacht büßen müssen. Außer Giamblanco wurden weitere Italiener geprügelt, doch Weicht hat dichtgehalten und Zweifel unterdrückt. Bis zum Brief von H., von dem Weicht sagt, er sei »wie ein großer Bruder« gewesen und habe ihn in die rechte Szene eingeführt. Weicht sinnt auf Rache. Er packt bei der Staatsanwaltschaft Potsdam aus, die dann sieben junge Rechtsextremisten anklagt. Im September und vergangenen Mittwoch verkündet das Amtsgericht Luckenwalde die Urteile: Bewährungsstrafen, Verwarnungen, Zwangszahlungen an gemeinnützige Vereine. Weicht tritt als Zeuge auf. Die Angeklagten blicken ihn kaum an. Weicht belastet sie alle.
Der Bruch mit der Szen
Die Rache ist zunächst Selbstzweck. Dann fängt Weicht an, über sein Leben nachzudenken. Er wendet sich an die Berliner Aussteigerhilfe »Exit«, beginnt Gespräche mit einer Gefängnispsychologin und einem Sozialarbeiter. Im Mai schreibt Weicht an Trebbiner Schüler einen offenen Brief, der bei einer Veranstaltung gegen Rechtsextremismus verlesen wird. »Ich bin nicht Euer Vorbild, Held oder was auch immer. (…) Ich war einfach nur der größte IDIOT der Welt. (…) Wenn ich heute auf mein Leben blicke, sehe ich einen dummen und naiven Jungen, der anerkannt und respektiert werden wollte (…) Es ist nicht mit einer Flasche Bier in der Hand und zwei starken Fäusten zu erlangen.« Das Publikum ist beeindruckt. Und Weicht formuliert in dem Brief eine Botschaft nach Bielefeld: Es sei für ihn »von großer Bedeutung«, sich bei Orazio Giamblanco »von ganzem Herzen für die damalige Tat zu entschuldigen«.
Orazio Giamblanco kommt 1961 von Sizilien nach Deutschland. In Bielefeld führt er eine Pizzeria. Nach ein paar Jahren gerät er in finanzielle Probleme und muss das Restaurant aufgeben. Seine Ehe zerbricht. Schließlich sucht Giamblanco einen Job am Bau, trotz Zementallergie und gegen den Willen seiner Freundin. Er fährt in den Osten. Die Berichte über rechte Gewalt nimmt er nicht weiter ernst. In Bielefeld hat er nie keulenschwingende Glatzen gesehen.
Der Italiener sitzt in der Küche neben seiner griechischen Lebensgefährtin Angelica Berdes und deren erwachsener Tochter Efthimia. Giamblanco zweifelt an Weichts Worten. »Ein Mensch kann sich nicht so schnell ändern.« Die Frauen reagieren härter. Sie sind verbittert, der Schlag mit der Keule hat auch ihr Leben ruiniert. Angelica Berdes sagt: »Ich kann dem Täter erst verzeihen, wenn er läuft wie Orazio, wenn er Schmerzen hat wie Orazio. Nicht wenn er sicher im Gefängnis sitzt und Fernsehen gucken kann.« Tochter Efthimia explodiert, als sie hört, dass Weicht behauptet, er habe keinen ausländerfeindlichen Überfall geplant, sei betrunken gewesen, und Giamblanco habe mit Steinen in den Händen vor ihm gestanden. »Orazio war kein schlechter Mensch! Und so wie ich ihn damals gesehen hab’ im Krankenhaus Luckenwalde, der Kopf war aufgeplatzt, die Hände waren kaputt, da kann keiner erzählen, dass Weicht nicht mit Wut und Hass draufgehauen hat.«
Die Tochter erinnert sich an die Fahrt nach Luckenwalde: »Sogar die Ärzte haben uns gewarnt, nicht über Nacht zu bleiben, sonst würden uns vielleicht Anschläge passieren.« Doch sie ist nicht auf Rache aus, »es wäre immerhin ein Schritt, wenn Weicht nachfühlt, was er gemacht hat. Orazio führt seinen Kampf, dass er uns nicht so belastet. So muss Weicht sein Leben auch in den Griff kriegen.«
Die beiden Frauen bewältigen ihr Schicksal nur mühsam. Die zierliche, 51 Jahre alte Angelica Berdes hat ihren Job aufgegeben, um Giamblanco zu pflegen. »Ich ziehe ihm die Strümpfe an, bringe ihn auf die Toilette, mache ihm das Essen, fahre mit ihm zur Gymnastik, bringe ihn ins Bett.« Wenn er hinfällt, versucht Angelica Berdes, ihn wieder hochzuwuchten. »Letztens ist Orazio auf der Straße umgekippt.« Giamblanco musste eine Woche ins Krankenhaus. Angelica Berdes kämpft mit Versorgungsämtern und Krankenkassen um Krücken, Rollstuhl, Therapien. Sie ist eigentlich selbst ein Pflegefall. Seit Jahren schluckt sie Beruhigungsmittel. Sie geht zum Psychiater, leidet unter Bluthochdruck – und hält doch irgendwie durch. »Ich bete immer zu Gott«, sagt Giamblanco, »dass meine Frau gesund bleibt. Habe keine andere Wahl.«
Efthimia Berdes, extrovertiert und kräftig, hat sich ein wenig Autonomie zurückerkämpft. Die ersten Jahre pflegt sie Giamblanco mit, verliert ihre Lehrstelle als Friseurin, bekommt Depressionen. Dann findet sie eine Stelle als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik. Schichtdienst rund um die Uhr. Die 28-Jährige braucht jeden Cent für die Miete. Letztes Jahr ist sie mit der Mutter und Giamblanco in einen Neubau gezogen. Die alte, gemeinsame Wohnung der drei war zu eng, Rollstuhlfahren kaum möglich. 2001 hat Giamblanco aus einem Opferfonds des Bundestages 300.000 Mark bekommen, sie reichen knapp für den Kauf der ebenerdigen Neubauwohnung. Efthimia Berdes mietet sich auf demselben Flur ein, um der Mutter und Giamblanco helfen zu können. Im März endet ihr Vertrag mit der Schokoladenfabrik. Wie es dann weitergeht, weiß sie nicht. Bis sich eine neue Stelle findet, muss sie vom Arbeitslosengeld leben – und von den Renten, die ihre Mutter und Giamblanco im Monat erhalten, insgesamt 1.800 Euro.
Jan Weicht hofft auf »eine zweite Chance«. Er hat im Gefängnis den Abschluss der zehnten Klasse nachgeholt und für 200 Euro im Monat als Maurer gearbeitet. Jetzt will er einen Schweißerkurs machen »oder ’ne Umschulung im offenen Vollzug«. Er hat »massive Angst« vor einer Rache der rechten Szene, aber verstecken will er sich nicht. »Sobald ich rauskomme, möchte ich ehrenamtlich mit Jugendlichen arbeiten, die auf die schiefe Bahn geraten sind.« Vor der Fahrt zurück ins Gefängnis sagt er noch: »Ich hoffe auf Verständnis.« Sein Bruch mit der Vergangenheit, seine Reue, sein Auftreten gegen rechte Gewalt – die Gesellschaft möge es erkennen, vor allem Giamblanco. »Sagen Sie ihm bitte, er braucht keine Angst vor mir zu haben, wenn ich wieder draußen bin.«
Giamblanco hat nach einigem Hickhack mit Behörden und Kasse einen Elektrorollstuhl bekommen, mit dem er auf einem Gehweg in dem Neubauareal herumfährt. Die Gesichtszüge wirken an diesem Tag zum ersten Mal entspannt. »Macht ein bisschen Spaß«, flüstert er. Es dämmert. »Komm Orazio«, sagt Angelica Berdes, »wir müssen rein.« Im Flur hilft sie Giamblanco aus dem Gefährt. Er umklammert seine Krücken. Wenn es nicht regnet, dreht er morgen die nächste Runde.
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