Vor 28 Jahren, am 30. September 1996, wurde Orazio Giamblanco in Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, Opfer eines rassistischen Angriffs. Der Täter schlug ihm mit einem Baseballschläger mit voller Wucht gegen den Kopf und nahm dabei seinen Tod in Kauf. Orazio überlebte den brutalen Überfall schwer verletzt und war seitdem pflegebedürftig. Am 27. Mai 2024 ist Orazio Giamblanco im Alter von 83 Jahren an den Spätfolgen des Angriffs verstorben.
In einer Langzeitreportage berichtet der Journalist Frank Jansen für den Tagesspiegel über das Schicksal von Orazio und seiner Familie.
Seine letzte Reportage wurde am 1. Dezember 2024 veröffentlicht: “Nach dem Tod von Orazio Giamblanco: „Ich bin Schrott“ – auch die Hinterbliebenen sind ein Leben lang Opfer rechter Gewalt”
Auch nach seinem Tod sind Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia Berdes, die Orazio bis zu seinem Tod begleitet haben und dadurch nicht bzw. nur eingeschränkt einer Lohnarbeit nachgehen konnten, auf finanzielle Hilfe angewiesen!
Bitte spendet an:
Opferperspektive e.V.
Stichwort „Orazio“
IBAN: DE34100 20500 00038 13100
BIC: BFSWDE33BER
Bis zu einer Spendensumme von 200 Euro pro Einzelspende genügt den Finanzbehörden ein “vereinfachter Spendennachweis”. Diese finden sie hier. Wer eine Quittung möchte, nennt bitte auf der Überweisung die Anschrift. Die Spendenbescheinigungen verschicken wir im Februar des Folgejahres.
Ein täglicher Kampf: Trebbins Bürgermeister besucht Opfer Orazio Giamblanco 27 Jahre nach Neonazi-Angriff
Im Mai starb der 83-jährige Orazio Giamblanco, der seit einem Angriff eines Neonazis 1996 in Brandenburg schwer behindert war. Seine Familie leidet weiter.
Von Frank Jansen
Sie stehen am Grab auf dem Alten Friedhof in Bielefeld und schweigen. Ein sonniger Vormittag im November, Verkehrslärm rauscht um den kleinen Friedhof im Stadtzentrum. Angelica Stavropolou und ihre Tochter Efthimia Berdes, genannt Efi, blicken auf die Steinplatte am Boden mit der schlichten Inschrift „Orazio Giamblanco 26.3.1941 – 27.5.2024“.
Darunter greifen zwei gestrichelte Herzen ineinander. Am oberen Rand des Grabsteins steht ein gerahmtes Foto. Orazio sitzt auf Sizilien, seiner alten Heimat, in einem Rollstuhl vor einem mit Luftballons geschmückten Eingang. „Das war bei der Einweihung eines Cafés“, sagt Angelica. „Da sah Orazio so gut aus, das war ein schönes Bild. Ich habe gesagt, er soll sich mit dem Rollstuhl vor die Luftballons stellen.“
Angelica und Efi pflegten ihn bis zum Schluss
Die kleine, zierliche Griechin atmet durch. Sie blickt nach oben, „vielleicht schaut er uns zu“. Efi sagt, „man will verdrängen, dass er nicht mehr da ist“. Für die Frauen ist unfassbar, dass Orazio weg ist.
Er war ihr Lebensinhalt, und er bleibt ihre Liebe. Obwohl der Lebensinhalt extrem anstrengend war. Angelica, heute 73 Jahre alt, und Efi, inzwischen 50, haben den schwer behinderten Orazio fast 28 Jahre lang gepflegt. Er war 83, als er starb.
Am 30. September 1996 hatte in der Kleinstadt Trebbin, südlich von Berlin, ein Skinhead seine Baseballkeule Orazio an den Kopf geschlagen. Die rechtsextreme Szene wollte Italiener jagen, die auf einer Großbaustelle tätig waren. Orazio überlebte nur knapp, in zwei Notoperationen konnten die Ärzte ihn im Klinikum Luckenwalde retten. Doch er blieb schwer behindert. Die beiden Frauen stellten ihr Leben radikal um. Sie nahmen die Mühen permanenter, kraftraubender Pflege auf sich. So sind sie ebenfalls Opfer rechter Gewalt. Auch heute noch, nach Orazios Tod.
Orazio litt bis zu seinem Tod an spastischer Lähmung, er konnte kaum sprechen. Schmerzen durchzogen Kopf und Körper, er wurde depressiv. Doch seine Lebenspartnerin Angelica und ihre Tochter gaben ihn nicht auf. „Wären die beiden nicht gewesen, wäre Orazio in ein Pflegeheim gekommen und früher gestorben“, sagt der junge Physiotherapeut Tim Lange. Er hat in den vergangenen vier Jahren mit Orazio gymnastische Übungen gemacht, am Geländer im Treppenhaus vor der Wohnung von Orazio und Angelica. Der agile, humorvolle Lange war für Orazio wie ein Freund.
An dem Tag im November kommt er bei Angelica und Efi vorbei, als sie vom Friedhof zurück sind. Orazio sei für ihn ein besonderer Fall gewesen, sagt Lange, „wegen der Geschichte, die dahinter steckt“. Und er habe „noch nie jemanden gesehen, der sich in einem so schlechten Zustand ins Leben kämpfte“. Lange nickt den Frauen zu, „das wäre ohne eure Hilfe nicht möglich gewesen“.
Unser Autor begleitet die Familie seit 1997
Für den Tagesspiegel habe ich über Orazio, Angelica und Efi Jahr für Jahr berichtet, seit 1997. Die damals geplante Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt, gedacht als exemplarische Dauerreportage über die humanitären Folgen eines brutalen rassistischen Angriffs, wurde intensiver, als ich mir das vorgestellt hatte.
Für Orazio und die Frauen war ich bald „Franco“, fast ein Familienmitglied. Ich beschrieb die körperlichen Qualen von Orazio, die Krankengymnastik bei wechselnden Therapeuten, den Ärger mit Behörden und Krankenkassen, aber auch die unaufhörliche Pflege von Angelica und Efi, ihren weitgehenden Verzicht auf Lebensqualität. Und die Depressionen, an denen die Frauen erkrankten, ohne jemals die Hilfe für Orazio infrage zu stellen.
Was im Rahmen der Langzeitstudie eine Frage aufwirft, für die Bundesrepublik insgesamt: Wie viele Angehörige von Opfern rechter und extremistischer Gewalt überhaupt leiden mit? Psychisch, auch physisch, womöglich bis zur Erschöpfung und darüber hinaus, wie Angelica und Efi?
Die lückenhaften Statistiken der Polizei berichten von mindestens 10.000 verletzten Opfern rechtsextremer Attacken seit der Wiedervereinigung. Doch das Land weiß wenig über das Schicksal der vielen geschlagenen und mutmaßlich lange traumatisierten Menschen wie auch über die Traumata ihrer Angehörigen. Das gilt besonders für diejenigen, die ein Familienmitglied bei einem tödlichen Angriff verloren haben. Seit 1990 kamen nach Recherchen des Tagesspiegels durch rechte Gewalt mehr als 190 Menschen ums Leben.
Viele Leserinnen und Leser nehmen Anteil am Schicksal von Orazio und den Frauen. Jahr für Jahr kommen Spenden, um das Leiden in Bielefeld zu lindern. Dafür war Orazio und sind Angelica und Efi dankbar. Nicht nur wegen des Geldes. Es tut gut, nicht vergessen zu werden. Gegen das Vergessen der Folgen rechter und extremistischer Gewalt an sich richtet sich auch die Langzeitstudie des Tagesspiegels. Sie ist mit Orazios Tod nicht zu Ende.
Angelica und Orazio wollten auswandern – dann kam die Attacke
Ein Rückblick. Angelica und Orazio hatten Pläne, nachdem sie sich bei einer Geburtstagsfeier in Bielefeld kennengelernt hatten. Sie war 40, er 50. Beide waren schon lange in Deutschland. Mit wenig Glück. Orazio musste seine Pizzeria aufgeben, die Ehe mit seiner sizilianischen Frau zerbrach. Die drei Kinder blieben bei der Mutter. Angelicas Ehe mit einem Griechen, dem Vater von Efi, scheiterte auch. Das gemeinsame Restaurant führte sie alleine weiter und gab dann auf. Als sich Angelica und Orazio zusammentaten, steckten sie in kleinen Jobs. Doch es gab Hoffnung.
„Wir wollten nach Griechenland“, sagt Angelica. Ein Bruder war Geschäftsmann und bot Orazio an, für ihn zu arbeiten. „Orazio konnte etwas Griechisch“, erzählt Angelica, „wir wollten Geld sparen, um nach Griechenland zu gehen. Dann kam der Unfall.“
Der „Unfall“ war der beinahe tödliche Angriff 1996 in Trebbin. Orazio war erst ein paar Tage auf der Großbaustelle tätig, als Dolmetscher für die italienischen Arbeiter. Orazio und die Frauen haben die grausige Tat immer als Unfall bezeichnet. „Unfall“ klingt wie ein Schicksal, das nicht zu verhindern ist. Um zu verdrängen, extremer Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein.
Dennoch vergaben Orazio, Angelica und Efi dem Täter Jan W., als er sich 2006 in zwei langen Briefen bei ihnen entschuldigte. Da war der ehemalige Skinhead vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Das Landgericht Potsdam hatte Jan W. 1997 zu 15 Jahren Haft verurteilt, wegen versuchten Mordes. Was er heute denkt, ist offen. Jan W. brach den Kontakt zum Tagesspiegel ab, als in einer Reportage seine Sympathien für die AfD zur Sprache kamen.
Angelica sagt, „nach dem Unfall habe ich Orazio geschworen, solange du lebst, verlasse ich dich nicht“. Sie gab ihre Arbeit in einer Süßwarenfirma auf und kümmerte sich um Orazio. Und um die damals junge Efi.
„Meine Mutter war immer für mich da“, sagt Efi. Sie betont, auch für sie sei „Familie besonders wichtig“. Die Mutter und Orazio alleine zu lassen, kam nicht infrage. Efi gab sogar 1996 ihre Lehre als Friseurin auf, als der Chef ihr verbieten wollte, mit der Mutter nach Luckenwalde zu fahren, um Orazio im Krankenhaus zu besuchen. Eine Zeitlang arbeitete Efi gar nicht. Als ihr klar wurde, dass sie ein Minimum an Eigenständigkeit braucht, begann sie eine Arbeit als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik. Dort ist sie noch heute tätig. Ein harter Job: Drei-Schicht-Betrieb, Akkord. Momentan muss sie nur in der Frühschicht arbeiten. „Auf Empfehlung meiner Ärztin, wegen meiner Schlafprobleme“, sagt Efi. Ihre Depressionen, dann Orazios Tod – das war zu viel.
Die Frauen rücken jetzt noch enger zusammen. Efi ist zu ihrer Mutter gezogen und hat die eigene Wohnung aufgegeben. Sie lag im selben Hausflur wie die von Orazio und Angelica. Efi war für Hilfe immer nah dran. Doch Miete und Nebenkosten verschlangen mehr als ein Drittel von Efis Gehalt. Jetzt kann sie etwas sparen. Es ist auch eine finanzielle Hilfe für die Mutter. Angelica bekommt eine schmale Rente, da sie seit 1996 nichts verdient hat. Immerhin gehört ihr die Wohnung, in der sie lebt. 2001 hatte Orazio 300.000 D-Mark aus einem Fonds des Bundestags für Opfer rechter Gewalt bekommen. Mit dem Geld kaufte er eine Neubauwohnung. Parterre und mit Rampe am Hauseingang, passend für den Rollstuhl. Innen ein geräumiger Hauptraum. Die frühere Altbauwohnung war eng, der Hauseingang hatte nur Stufen.
Der Baseballschläger traf die ganze Familie
Was erwarten die Frauen von der Zukunft? Angelica winkt ab, „meine ist vorbei. Ich bin Schrott“. Sie zählt auf: die Depressionen, der hohe Blutdruck, die anhaltenden Schmerzen in den Beinen nach dem Bruch des linken Fußes im Dezember 2021. „Früher hätte ich zehn Minuten zum Friedhof gebraucht“, sagte Angelica, „heute eine Stunde“. Und ihr fehlt, trotz aller Mühen bei der Pflege, Orazio als Impuls für Lebensmut. „Ich habe Orazio Kraft gegeben, er hat mir Kraft gegeben“, sagt sie. „Jetzt ist das vorbei.“
Efi sagt beim Thema Zukunft, „ich als Mensch habe mich für meine Mutter entschieden“. Dass sie einen Mann findet, kann sie sich kaum vorstellen angesichts der Erfahrungen seit Orazios „Unfall“. Sie sei „von den Männern in meinem Leben enttäuscht“. Da Efi viel Freizeit für die Hilfe für Orazio opferte, „waren die schnell wieder weg“.
So trifft die Baseballkeule des rechten Schlägers auch nach dem Tod des direkten Opfers weiter zwei Menschen. Einer, der das nicht hinnehmen will, ist Trebbins Bürgermeister Ronny Haase. Der parteilose Politiker und engagierte Christ war 2023 das erste Mal mit mir in Bielefeld. Er kam auch zu Orazios Beerdigung im Juni und ist im November wieder dabei. Er geht mit zum Grab, er sitzt mit beim Gespräch in der Küche. „Ich bin dankbar, dass ich Orazio noch gesehen habe“, sagt er. „Wir dürfen ein Opfer nicht vergessen. Und die pflegenden Angehörigen auch nicht.“
Vor zwei Monaten, am 30. September, dem 28. Jahrestag des rassistischen Angriffs, veranstaltete Haase mit der örtlichen Pfarrerin Florence Häneke am Tatort eine Gedenkzeremonie. Etwa 50 Trebbinerinnen und Trebbiner kamen. Den Tatort, ein Parkplatz neben der alten, verlassenen Feuerwehrwache, hatte die Stadt 2021 zum „Orazio-Giamblanco-Platz“ erklärt. Neben dem Straßenschild steht eine Stele. Auf Messingplatten wird an Orazios Schicksal erinnert und extremistische Gewalt verurteilt. Signale gegen Hass und Hetze in einer Stadt, in der die AfD, wie in ganz Brandenburg, auch auf rund 30 Prozent kommt.
Haase betont, „die Stele wurde bislang nicht beschmiert“. Und es gebe Leute, „die selber mal Blumen hinstellen“. Haase will auch nächstes Jahr nach Bielefeld fahren. Ihm sei wichtig, Angelica und Efi zu zeigen, „wir lassen euch nicht im Stich“.
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