Der italienische Bauarbeiter Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Skinhead in Brandenburg beinahe erschlagen. In einer Langzeitreportage berichtet der Journalist Frank Jansen für den Tagesspiegel über die kleinen Fortschritte Giamblancos bei der Physiotherapie, die finanziellen Sorgen der Familie und die Auseinandersetzung mit der Tat, die vor 26 Jahren ihr Leben brutal veränderte. Seine letzte Reportage wurde am 3. Dezember 2023 veröffentlicht: »Ein täglicher Kampf: Trebbins Bürgermeister besucht Opfer Orazio Giamblanco 27 Jahre nach Neonazi-Angriff«
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Ein täglicher Kampf: Trebbins Bürgermeister besucht Opfer Orazio Giamblanco 27 Jahre nach Neonazi-Angriff
Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Skinhead in Trebbin in den Rollstuhl geprügelt. Nun hat der Bürgermeister der Kleinstadt den Italiener zu Hause in Bielefeld besucht. Von Frank Jansen
Es sind diese Blicke des alten Mannes im dunkelblauen Trainingsanzug, die einen nicht mehr loslassen. Orazio Giamblanco reißt die Augen blitzartig auf, er stöhnt, die Augen sind wieder geschlossen, er blinzelt schmerzverzerrt zur Seite. Aber der Italiener schafft, was er sich vorgenommen hat. Mithilfe des jungen Physiotherapeuten Tim Lange und der ukrainischen Helferin Nadia steht er an der breiten Querstange am Treppenhausgeländer und zieht sich vor und zurück. Das ist für einen 82-jährigen, schwer behinderten Mann eine enorme Leistung. Langsam vor und zurück, mit einem von spastischer Lähmung gekrümmten Körper.
Tim Lange stützt ihn und gibt Anweisungen, „du bist schief!“ Orazio schwankt, der Kopf hängt halbrechts runter. Nach einigen Minuten lässt die Kraft nach. Orazio sinkt in dem hinter ihm stehenden Rollstuhl. Er atmet schwer. Doch er blickt dankbar in die Runde. Vor allem zu einem Gast, dessen Besuch Orazio besonders freut.
Es ist der Mittag des 20. November in einem Wohnhaus in Bielefeld. Orazio Giamblanco lebt hier im Erdgeschoss, zusammen mit seiner 72 Jahre alten, griechischen Lebenspartnerin Angelica Stavropolou. An der anderen Seite des Flurs wohnt Angelicas Tochter Efthimia, „Efi“ genannt. Sie ist 49 Jahre alt und alleinstehend. Die drei schweißt ein Schicksal zusammen, wie es schwerer kaum sein kann. Am 30. September 1996 schlug ein Skinhead in Trebbin, einer Kleinstadt südlich von Berlin, seine Baseballkeule gegen Orazios Kopf. Aus rassistischem Hass. Der Italiener überlebte nur dank zweier Notoperationen im Krankenhaus Luckenwalde. Es war fast schon ein Wunder, dass er nach Bielefeld zurückkehren konnte.
Eine dauerhafte Qual seit 27 Jahren
Die 27 Jahre seit dem Angriff sind eine dauerhafte Qual, ein täglicher Kampf. Für Orazio und für die beiden Frauen, die ihn bis zur völligen Erschöpfung pflegen. Kann sich ein gesunder Mensch vorstellen, was es bedeutet, 27 Jahre mit spastischer Lähmung, schwerer Sprachstörung, ständigen Schmerzen in Kopf und Körper und endlosen Depressionen leben zu müssen?
Angelica und Efi können es, sie müssen es können. Und sind selbst depressiv geworden. Doch die Pflege von Orazio geben sie nicht auf. Die ambulante und auch teure Hilfe von Osteuropäerinnen, die seit mehr als einem Jahr für zwei oder drei Monate nach Bielefeld kommen, ist nur in Teilen eine Entlastung. Wie viel Kraft so ein Leben kostet, für Orazio, Angelica und Efi, sieht nun auch der Gast aus Trebbin.
Ronny Haase ist Bürgermeister der Kleinstadt, 45 Jahre alt, parteilos. Und ein engagierter Christ. Er ist angereist, um Mitgefühl zu zeigen. Erstmals kommt der höchste Repräsentant der Stadt, in der Orazios Leben ruiniert wurde. Vergangenes Jahr, Haase war noch nicht lange im Amt, hatte er eine Weihnachtskarte nach Bielefeld geschickt. Angelica und Efi begrüßen ihn herzlich in der Wohnung. Orazio lächelt ein wenig und hebt matt die rechte Hand, „habe Kopfschmerzen“. Haase wirkt verlegen, „ich freue mich wirklich, Sie kennenzulernen“. Er kommt mit ins Treppenhaus zur häuslichen Krankengymnastik.
Haase stellt sich zu Orazio, der erst am Rollator wenige Schritte schlurft. Dann klammert er sich ans Geländer. „Man merkt, wie viel Kraft er braucht“, sagt Haase, „das hinzukriegen, das ist toll“. Der Bürgermeister ringt trotz seiner extrovertierten Art um Worte. Und Orazio macht etwas, das selten ist. Er schreit seinen Schmerz heraus. Mit brüchiger Stimme, aber ungewohnt laut, ruft er am Treppengeländer, „ich habe schwer! Ich habe dreimal schwer!“
Er hebt langsam drei Finger seiner rechten Hand. Er streicht die Finger über den Kopf und über den Magen. Er blickt auf seine gekrümmten Beine. Dass Orazio überhaupt am Geländer stehen kann, gestützt vom Physiotherapeuten, zeugt vom Willen, sich auch 27 Jahre nach der Gewalttat immer noch aufzubäumen.
Vielen Leserinnen und Lesern des Tagesspiegels werden Orazio, Angelica und Efi bekannt sein, viele haben auch für die drei gespendet. Ich berichte seit 1997 Jahr für Jahr in einer Reportage über den aktuellen Zustand in Bielefeld. Für die drei bin ich längst als „Franco“ ein Teil der Familie. Wir duzen uns schon lange. Zu einer authentischen Reportage gehört in diesem Fall die sonst von Journalisten gemiedene „Ich“-Form. Doch es geht nicht darum, eine rührselige Heldengeschichte zu erzählen.
Bürgermeister und Täter gingen zur selben Schule
Das Schicksal von Orazio, Angelica und Efi zeugt exemplarisch von dem historischen und offenbar endlosen Horror rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland. Seit 1990 haben Neonazis und andere Rechte im Osten und Westen weit mehr als 10.000 Menschen bei tätlichen Angriffen verletzt und mehr als 180 getötet. Das ergeben Statistiken der Polizei, so lückenhaft sie auch sind, sowie Recherchen des Tagesspiegels, weiterer Medien und zivilgesellschaftlicher Initiativen.
Um der humanitären Dimension der Folgen rechter Attacken ein Gesicht zu geben, habe ich 1997 die Langzeitstudie über ein schwer getroffenes Opfer der Gewalt begonnen – den beinahe totgeschlagenen Orazio Giamblanco. Der im September 1996 mit weiteren Italienern für einen Job auf einer Großbaustelle nach Trebbin gekommen war. Schon nach wenigen Tagen wurde er von dem Skinhead Jan W. überfallen. Ronny Haase kannte den Täter flüchtig, wie auch weitere Mitglieder der lokalen rechten Szene der 1990er-Jahre. Man ging zur selben Schule in Trebbin.
Von Jan W. habe er zunächst nicht glauben können, dass er in den Rechtsextremismus abdriftet. „Der kam nicht so rüber“, sagt Haase und erinnert sich, „er war zwei Klassen über mir“. Jan W. zählte zu einer Glatzkopfclique, wie sie in den sogenannten Baseballschlägerjahren typisch waren, im Osten noch mehr als im Westen.
Als im September 1996 die ausländischen Bauarbeiter in die Kleinstadt kamen, fühlten sich die Skinheads provoziert und wollten Italiener jagen. Jan W. und ein Kumpan fuhren in einem Trabi durch Trebbin. Bei der alten Feuerwehrwache sahen sie Orazio und einen weiteren Italiener. Jan W. holte mit seiner Baseballkeule aus, der Kumpan verletzte Orazios Kollegen. Allerdings weniger schwer. Orazios Kollege verließ Trebbin und Deutschland so schnell er konnte.
In Trebbin gab es nach dem Angriff eine Spendenaktion für die Opfer. Danach war die Tat jahrelang kaum ein Thema. Das änderte sich erst, als im Stadtparlament der 2008 gewählte, parteilose Jurastudent Hendrik Bartl begann, die jährlichen Reportagen des Tagesspiegels über Orazio, Angelica und Efi vorzulesen. Über das schwierige Leben in Bielefeld, die vielen Stationen bei der Physiotherapie, den Kampf um einen Elektro-Rollstuhl und weitere Probleme mit Krankenkassen und Ämtern. Über Angelicas Vollzeitaufgabe der Pflege Orazios und Efis Belastung mit der Hilfe für ihre Mutter und Orazio und dem Drei-Schichten-Job in einer Schokoladenfabrik.
Bartls Engagement wirkte. Die Spendenaktion wurde wieder aufgenommen. Im November 2009 kam Bartl mit Trebbins Vizebürgermeisterin Ina Schulze und dem Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung, Peter Blohm, nach Bielefeld. Die drei waren gerührt vom freundlichen Empfang durch Orazio und die Frauen, aber auch erschüttert über Orazios Zustand. Die Politiker hatten Tränen in den Augen. „Das hätte ich mir nicht vorstellen können“, sagt Blohm.
Ronny Haase ist schon lange Kommunalpolitiker und vor allem Finanzexperte. Er war von 2008 bis 2022 Kämmerer der Stadt Trebbin, dann gewann er die Wahl zum Bürgermeister. Er erinnert sich, die Stadtverordnetenversammlung sei zunächst erstaunt gewesen, dass sich ein junger Mensch wie Hendrik Bartl für Orazio Giamblanco einsetzt. Haase selbst wurde nochmal sensibler, als ein Italiener in seine Familie kam, als Lebenspartner einer Großtante. „Virgilio war so ein herzlicher Mensch, so ein liebevoller Mann“, Haase stockt. Im April dieses Jahres starb der Italiener an Krebs.
Das habe, sagt Haase, seine eigene Anteilnahme am Schicksal von Orazio Giamblanco noch verstärkt. Im vergangenen Jahr schickte der Bürgermeister einen Weihnachtsgruß nach Bielefeld und fragte mich, ob er mal mitkommen könnte nach Bielefeld. Na klar.
Orazio Giamblanco hat dem Täter verziehen
Orazio, Angelica und Efi haben keinen Hass auf Trebbin. Sie brachten es sogar über sich, Jan W. zu verzeihen. Der Skinhead, 1997 vom Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft verurteilt, distanzierte sich im Gefängnis von der Szene. Er kam nach acht Jahren auf Bewährung frei. Im Jahr 2006 gab er mir zwei Briefe für Orazio und die Frauen mit. „Ich war damals einfach der größte IDIOT der Welt, der sich mit falschem Stolz durchs Leben schlug“, stand da. Ihm werde bewusst, „was ich damals für einen riesengroßen Fehler beging, indem ich Ihr Leben zerstörte“. Orazio und die Frauen nahmen dem Täter die Reue ab. Jan W. brach später allerdings den Kontakt zum Tagesspiegel ab. Ihn störte, dass in den Reportagen stand, er habe bei Facebook die AfD geliket.
Für Orazio und die Frauen ist wichtiger, dass Trebbin deutliche Zeichen der Erinnerung setzt. Am 30. September 2021, auf den Tag genau 25 Jahre nach der beinahe tödlichen Attacke mit dem Baseballschläger, weihten Hendrik Bartl, inzwischen Vorsteher des Stadtparlaments, und Ina Schulze am Tatort ein Straßenschild mit der Aufschrift „Orazio-Giamblanco-Platz“ ein, daneben eine Stele mit Messingplatten. Die Inschriften erinnern an den rassistischen Angriff und mahnen zum Einsatz gegen Rechtsextremismus.
Orazio, Angelica und Efi freuten sich über die Fotos, die ich ihnen schickte. Ursprünglich wollte Orazio sogar zu der kleinen Feier nach Trebbin kommen. Doch kurz zuvor war er bei einer Taxifahrt beinahe kollabiert.
Der „Orazio-Giamblanco-Platz“ ist auch Thema bei Haases Besuch in Bielefeld. „Habe mich gefreut“, murmelt Orazio. Der Gedenkort, versichert Haase, „wird ordentlich gehalten. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass man selber auf die eigenen Leute achten muss. Wir müssen helfen, dass die Leute nicht zu weit abdriften.“ Ein Bekenntnis. Aber wie sieht es am Orazio-Giamblanco-Platz aus?
Empathie und Gleichgültigkeit in Trebbin
Ende Oktober bin ich nach Trebbin gefahren. Die Stele und das Straßenschild sind unversehrt – keine Schmierereien, nichts zerkratzt. Es sind wenig Leute unterwegs, die ehemalige Feuerwehrwache im Hintergrund steht leer. Ein älteres Paar kommt vorbei. Sie wissen nicht, wer Orazio Giamblanco ist. Ich erkläre es kurz. Was halten sie davon, dass der Platz nach einem Opfer rechter Gewalt benannt ist? Die Frau hebt die Schultern. Der Mann sagt, „ich kann dazu nichts sagen, ich bin ja nicht von hier“.
Ein paar hundert Meter entfernt werkelt ein älteres Ehepaar am Garten. Die Frau winkt ab, „ich weiß nichts“. Ihr Mann weiß, „das war ein italienischer Bauarbeiter“. Die Benennung des Platzes sieht er kritisch. „Das hilft weder den Hinterbliebenen noch dem Opfer selber.“ Was wäre denn hilfreich? „Keine Ahnung“. Aber es sei traurig, was damals passiert ist. „Ein Sohn eines Arbeitskollegen war auch dran beteiligt, das war schlimm.“ Eine ältere Frau kommt. „Ich finde das in Ordnung, dass der Platz so benannt ist“, sagt sie. „Ich finde das sowieso alles furchtbar mit den ganzen Rechten.“
Empathie und Gleichgültigkeit wechseln sich in Trebbin offenbar ab, wenn es um den zum Gedenkort umfunktionierten Tatort geht. Kürzlich berichtete mir ein Anwohner, ausgerechnet zwischen der Stele und dem Schild „Orazio-Giamblanco-Platz“ sei ein Dixi-Klo aufgestellt worden. Der Mann war empört und beschwerte sich im Rathaus. Nach wenigen Tagen war die blaue Toilettenkabine weg.
Die Stadt Trebbin bemüht sich um Prävention
Eine rechte Szene wie 1996 gebe es in Trebbin nicht mehr, sagt der Bürgermeister. „Aber das Gedankengut ist natürlich noch da.“ Die AfD hat im Stadtparlament eine Zwei-Mann-Fraktion, ein Mitglied ist allerdings aus der Partei ausgetreten. Die Rechtspopulisten wirken hier weniger bissig, die Fraktion stimmte auch Stele und Straßenschild zu. „Viele in der AfD sind nicht per se rechtsextrem, sondern mit der Politik nicht einverstanden“, meint Haase. Aber Björn Höcke sei eindeutig ein Extremist.
Es ist zu spüren, wie der Besuch in Bielefeld den Kommunalpolitiker beeindruckt. Und womöglich verändert. „Das Engagement gegen Rechtsextremismus muss einen großen Stellenwert haben in Trebbin“, sagt Haase. In den 1990er-Jahren sei „vieles falsch gelaufen, weil man es zu spät erkannt hat“. Seit 2021 sind im städtischen Haushalt 10.000 Euro jährlich für Prävention eingestellt. Vor allem Schülerinnen und Schüler sollen über die rechtsextreme Gefahr aufgeklärt werden. Mit Besuchen in Berliner Synagogen, mit Referenten, die an der Trebbiner Oberschule über Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus sprechen. Haase möchte das Programm auch auf die Grundschule ausweiten, „man kann nicht früh genug anfangen“.
Der Bürgermeister hört in Bielefeld geduldig zu. Orazio sagt nach der Übung im Treppenhaus schleppend, „mein Leben ist so …“ Er macht mit der rechten Hand eine Wischbewegung, als verscheuche er eine Fliege. Er holt Luft und blickt zu Angelica. „Nur diese Frau und Tochter …“ Angelica beugt sich zu Haase, „ich habe damals geschworen auf Gott, ich lasse ihn nicht allein oder in einem Heim“. Haase ist aufgewühlt, „Sie heißen Angelica, das heißt ‚Engel‘. Der Name passt für alles, was Sie hier leisten.“ Angelica lächelt, „danke. Orazio ist wie ein kleines Kind.“
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