Der italienische Bauarbeiter Orazio Giamblanco wurde 1996 von einem Skinhead in Brandenburg beinahe erschlagen. In einer Langzeitreportage berichtet der Journalist Frank Jansen für den Tagesspiegel über die kleinen Fortschritte Giamblancos bei der Physiotherapie, die finanziellen Sorgen der Familie und die Auseinandersetzung mit der Tat, die vor 25 Jahren ihr Leben brutal veränderte. Seine letzte Reportage wurde am 26. November 2021 veröffentlicht: »Opfer eines Nazi-Angriffs: 25 Jahre Qualen – das Leid von Orazio Giamblanco und seiner Familie«
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Opfer eines Nazi-Angriffs: 25 Jahre Qualen – das Leid von Orazio Giamblanco und seiner Familie
Seit dem Angriff eines Skinheads 1996 ist Orazio Giamblanco schwer behindert. Er hat immer Schmerzen, seine Familie ist erschöpft. Aber sie gibt ihn nicht auf. Von Frank Jansen
Es ist ungewöhnlich, dass Orazio Giamblanco im Bett liegt, wenn er Besucher erwartet. Trotz seiner schweren Behinderung hat sich der Italiener mit Hilfe seiner Lebenspartnerin Angelica immer bemüht, in der Wohnung korrekt gekleidet und frisiert einen der seltenen Gäste zu empfangen. Doch vergangenen Montag klappt das nicht mehr. Orazio ist noch im Bett mit den orthopädischen Haltegriffen.
Die Augen sind halb geschlossen, er murmelt, „nicht geschlafen… habe geweint“. Angelica sagt, Orazio habe in der Nacht nach seiner Mutter gerufen. Er habe gesagt, er wolle nicht mehr leben, es sei für ihn vorbei. Aber die zierliche Frau gibt Orazio nicht auf. Nach einer halben Stunde hat sie den alten Mann doch aus dem Bett bugsiert. Sie fährt Orazio im Rollstuhl in die Küche. Da sitzt er halb eingesunken, lächelt matt den Besucher an. Und spricht vom Sterben.
Die jährliche Fahrt nach Bielefeld zu Orazio Giamblanco, dem heute 80 Jahre alten Opfer rechtsextremer Gewalt, ist diesmal noch bedrückender als sonst. Orazio, längst ein Freund und nicht nur Protagonist einer Langzeitrecherche, leidet wieder an einem depressiven Schub.
Seit Mitte November und offenbar härter als in der langen Leidenszeit bisher. 25 Jahre hat Orazio durchgehalten, nach dem Angriff eines Skinheads im brandenburgischen Trebbin, nach dem Schlag mit der Baseballkeule gegen den Kopf. Durchgehalten mit spastischer Lähmung, Sprachstörung, Kopfschmerzen, Magenproblemen und ständiger Abfolge weiterer Beschwerden, physisch und psychisch.
Doch jetzt wirkt Orazio endgültig zermürbt. Ohne Aussicht auf Besserung, auf weniger Schmerzen, auf ein Leben ohne Rollstuhl und ohne die Angst, der nächste Aufenthalt im Krankenhaus sei nur eine Frage der Zeit. In diesem Jahr lag er viermal in einer Klinik, zweimal wegen einer Lungenentzündung, zweimal wegen der Probleme mit dem Magen. Das Leid wird ihm zu viel.
Am 30. September 1996 wurde Giamblanco überfallen
Orazio Giamblanco ist ein Beispiel für das Elend, das der Rechtsextremismus Jahr für Jahr verschuldet. Am Abend des 30. September 1996 überfielen der Kahlkopf Jan W. und ein Kumpan aus rassistischem Hass den Mann aus Sizilien und zwei weitere Italiener.
Die drei waren als Hilfsbauarbeiter in Trebbin. Orazio überlebte nur knapp in zwei Notoperationen. Doch das Wort Leben hatte für ihn nie wieder den Klang wie vor der Tat. Als ich für den Tagesspiegel Orazio das erste Mal besuchte, im April 1997 in der neurologischen Klinik „Lindenbrunn“ im niedersächsischen Coppenbrügge, sagte ein Arzt, eine Genesung sei „extremst unwahrscheinlich“. Der Mann hatte recht.
Das bedeutet: ein Vierteljahrhundert Qualen ohne Ende. Wie hält ein Mensch das aus? Wie kann er es ertragen, dass sein Leben ruiniert ist ohne jede eigene Schuld, ohne den Täter gekannt zu haben, ohne irgendeinen Anlass für den Hass gegeben zu haben, der die Baseballkeule lenkte, die auf den Kopf prallte?
Beim ersten Treffen mit Orazio und Angelica, damals in Coppenbrügge, habe ich mir als Journalist bereits solche Fragen gestellt. Und ich habe beschlossen, Orazio und seine Lebenspartnerin Angelica Stavropolou und deren Tochter Efthimia Berdes, genannt Efi, zu begleiten, so lange es geht.
Um anhand ihrer Schicksale den Leserinnen und Lesern des Tagesspiegels Jahr für Jahr einen Blick in das „Leben“ zu geben, in dem ein schwer behindertes Opfer rechtsextremer Gewalt und die Angehörigen gefangen sind. Auch lange nach den Schlagzeilen, wenn die Tragödie kaum noch jemanden interessiert. Doch jede rassistische Gewalttat ist und bleibt ein Riss in der Demokratie. Und die Bundesrepublik hat mutmaßlich mehr Risse, als ihr bewusst ist.
Seit der Wende: 10.000 Menschen von Nazis attackiert
Allein seit der Wiedervereinigung haben Neonazis und andere Rechte nach den oft lückenhaften Statistiken der Polizei weit mehr als 10.000 Menschen körperlich attackiert. Wie viele Opfer bleibende Schäden erlitten, weiß niemand. An dieser Stelle sei nicht verschwiegen, dass auch andere Extremisten Menschen schwere Verletzungen zufügen. Die Bilanz seit 1990 zeigt allerdings, dass von rechtsextremistisch motivierter Gewalt die größte Gefahr ausgeht.
Die zehn Morde des NSU und die neun Todesopfer des rassistischen Anschlags vom Februar 2020 in Hanau sind die grausigsten Fälle. Nach Recherchen des Tagesspiegels starben seit der Wiedervereinigung mindestens 187 Menschen bei rechten Angriffen. Der scheidende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) warnt seit Jahren, das größte Risiko für die innere Sicherheit sei der Rechtsextremismus.
Jedes Jahr ist furchtbar. Und doch immer auch anders
Was das im Einzelfall bedeutet, lässt sich oft nur ahnen. Bei Orazio Giamblanco hingegen ist es offensichtlich. Seit 25 Jahren. Jedes Jahr ist furchtbar, und doch immer auch anders. Mit Rückschlägen, Lichtblicken. Mit menschlicher Zuwendung, mit bürokratischer Kälte.
Im September 1997 besuche ich Orazio wieder. Er liegt in einer Reha-Klinik im westfälischen Bad Oeynhausen. Orazio, jetzt etwas besser ansprechbar, macht sich Sorgen um Angelica und Efi. Die beiden Frauen, damals 46 und 23 Jahre alt, kümmern sich intensiv um Orazio. Angelica gab ihren Job auf, Efi verlor die Lehrstelle als Friseurin, weil der Chef kein Verständnis für Fehlzeiten hatte.
Nach dem Bericht im Tagesspiegel bieten Leserinnen und Leser an, für die drei zu spenden. So beginnt eine Hilfsaktion, die bis heute anhält. Vielen Menschen in Berlin, Brandenburg und auch außerhalb ist nicht gleichgültig, was Orazio und die Frauen durchmachen. Jedes Jahr wieder.
- 1998. Orazio übt im Hausflur Schritte am Rollator. Angelica wird angesichts der kraftzehrenden Pflege und der Verzweiflung über Orazios Zustand depressiv. Sie geht zum Psychiater. Bis heute.
- 1999. Bei Orazio werden die Schluckbeschwerden stärker, auch eine Folge des Schlags gegen den Kopf. Efi klagt über häufige Rückenschmerzen. Orazio muss aus Bett und Stuhl gehoben und auch wieder hineinbugsiert werden. Efi und ihre Mutter sind am Rand ihrer Kraft.
- 2000. Ein kleines Wunder: ein Physiotherapeut in Bielefeld verhilft Orazio zu ein paar freien, schwankenden Schritten. Länger zu laufen bleibt aber unmöglich.
- 2001. Orazio und Angelica ziehen aus der engen alten Wohnung in einen Neubau um, mit Rollstuhlrampe am Eingang. Efi zieht auch im Haus ein und arbeitet wieder, als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik. Die Fortschritte werden jedoch durch Ärger mit der AOK Westfalen-Lippe getrübt. Eine Sachbearbeiterin verweigert Orazio den vom Hausarzt empfohlenen Elektrorollstuhl. Bei Anfrage des Tagesspiegels bemerkt die Frau, dass sie gar nicht zuständig war. Orazio bekommt den neuen Rollstuhl.
- 2002. Der Täter Jan W., 1997 vom Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft verurteilt, sagt dem Tagesspiegel, er bereue den Angriff und wolle sich beim Opfer entschuldigen. Orazio und die Frauen sind skeptisch. Und die geplante Reise nach Sizilien, in Orazios alte Heimat, scheitert. Vor Aufregung kollabiert er beinahe auf der Fahrt zum Flughafen Hannover. Die drei kehren um nach Bielefeld.
- 2003. Orazio, Angelica und Efi fliegen jetzt doch nach Sizilien, der Tagesspiegel kommt mit. Ein Berliner Berater aus der Stahlbranche hat Orazio und den Frauen seine über Miles & More erworbenen Freiflüge spendiert. Orazio erfüllt sich einen Wunsch: er berührt auf dem Friedhof der Stadt Agira die Marmorplatten der Grabkammern von Mutter und Vater.
- 2004. Nach dem Tod eines Bruders verstärken sich Orazios Schlafstörungen und Depressionen. Er unterbricht die Krankengymnastik. Ein Physiotherapeut hilft mit Fangopackungen, bis Orazio wieder Übungen machen kann.
- 2005. Der Therapeut sagt, Orazio beginne zu resignieren. Es fehle die Perspektive, dass sich die Situation bessert. Angelica sagt, sie nehme täglich Beruhigungsmittel. Efi berichtet, dass wieder eine Beziehung mit einem jungen Mann gescheitert ist, weil sie in ihrer Freizeit oft ihrer Mutter bei der Pflege von Orazio hilft.
- 2006. Der Täter Jan W. gibt mir zwei Briefe mit, in denen er sich für den Schlag mit der Baseballkeule entschuldigt. Ich lese die Zeilen in Bielefeld vor. In einem Brief steht, „ich war damals einfach nur der größte Idiot der Welt, der sich mit falschem Stolz durchs Leben schlug“. Angelica weint. Dann nehmen sie und Efi die Entschuldigung von Jan W. an. Orazio zögert. Am nächsten Tag sagt er am Rande der Krankengymnastik, „ich verzeihe ihm jetzt“.
- 2007. Bei einem zweiwöchigen Urlaub in Griechenland, der alten Heimat von Angelica, leidet Orazio unter tagelangem Nasenbluten. In Bielefeld hält er jedoch die Krankengymnastik halbwegs durch.
- 2008. Orazio wechselt zu einer Physiotherapeutin. Sie übt mit ihm eine Treppe zu besteigen. Für 16 flache Stufen braucht er mit Gehhilfe zehn Minuten.
- 2009. Trebbin befasst sich mit dem Schicksal des Mannes, der in der Stadt vor 13 Jahren beinahe erschlagen wurde. Vizebürgermeisterin Ina Schulze, der Vorsitzende des Stadtparlaments, Peter Blohm und der Stadtverordnete Hendrik Bartl besuchen Orazio, Angelica und Efi in Bielefeld. Die Kommunalpolitiker sind erschüttert. „Ich konnte mir das nicht vorstellen“, sagt Blohm.
- 2010. Orazio wechselt zurück zu einem früheren Physiotherapeuten und schafft einen Schritt ohne Krücken. Mehr geht nicht.
- 2011. Bei dem neuen alten Therapeuten bewältigt Orazio schwankend ein paar Schritte ohne Gehhilfe.
- 2012. Orazio ist therapiemüde und wechselt zu einem Fitnessstudio. Dort übt er das Gehen am Rollator. Für etwa 30 Meter braucht er eine halbe Stunde.
- 2013. Efi erkrankt an Depressionen und fügt sich eine lebensgefährliche Verletzung zu. Sie verbringt vier Wochen im Krankenhaus, es folgen drei Monate in einer Reha-Klinik. Der Zustand bessert sich, doch bis heute geht sie zu dem Psychiater, der auch ihrer Mutter hilft.
- 2014. Efi arbeitet nach den starken Depressionen wieder, ist aber weiter auf starke Medikamente angewiesen. Orazio hofft, wie so oft schon, die spastische Lähmung könne doch gedämpft werden und wechselt zur Physiotherapie im Bielefelder Franziskus-Krankenhaus.
- 2015. Orazio muss wegen einer Entzündung der Gallenblase notoperiert werden. Die starken Beschwerden haben ihn zurückgeworfen. Als er wieder zur Physiotherapie kommt, fehlt die Kraft für Übungen länger als zwei Minute
- 2016. Trotz der anhaltenden Magenprobleme übt Orazio mühsam an den Seilzuggeräten im Franziskus-Krankenhaus. Er klagt, „die Kraft wird immer weniger“.
- 2017. Wegen der Beschwerden am Magen setzt Orazio wochenlang die Krankengymnastik aus. Doch die Familie hilft. Und es gelingt, gemeinsam mit Angelica, Efi und seinem Bruder Giovanni, wieder nach Sizilien zu fliegen. Dort erkrankt er allerdings im Hotel. Der geschwächte Körper verträgt die Klimaanlage nicht, Orazio liegt den halben Urlaub mit einer Erkältung im Bett.
- 2018. Sechs Monate schafft es Orazio nicht zur Physiotherapie. Immerhin klappt noch mal eine Reise nach Sizilien. Dank der Spenden der Leserinnen und Leser des Tagesspiegels können sich Orazio und die Frauen ein halbwegs behindertengerechtes Hotel leisten.
- 2019. Eine weitere Reise nach Sizilien fällt, wie schon 2002, in letzter Minute aus. Orazio erleidet in der Nacht vor dem Flug eine Panikattacke. Aus Angst vor einem völligen Zusammenbruch sagen Angelica und Efi die Reise ab.
- 2020. Wegen der Pandemie bleibt Orazio noch häufiger in der Wohnung. Ein junger Physiotherapeut kommt allerdings regelmäßig vorbei und macht mit Orazio Übungen an einer Geländerstange im Treppenhaus. In Trebbin regt die Satirepartei „Die Partei“ an, das neue Feuerwehrhaus nach Orazio Giamblanco zu benennen. Es folgen lange Diskussionen, schließlich einigt sich das Stadtparlament auf die Umbenennung eines Parkplatzes – hier hatte Orazio 1996 die Keule an den Kopf bekommen.
- 2021. Am 30. September, dem 25. Jahrestag des rechten Angriffs, enthüllen in Trebbin Vizebürgermeisterin Ina Schulze und Hendrik Bartl, nun Vorsitzender des Stadtparlaments, das Straßenschild „Orazio-Giamblanco-Platz“. Daneben ist eine Stele mit Texten zur Erinnerung an die Tat und zur Würdigung des Menschen aufgestellt. Orazio wollte zu der kleinen Feier kommen, doch kurz zuvor hatte er sich bei einer Fahrt nach Düsseldorf mehrmals übergeben. Angelica und Efi ist das Risiko zu groß, dass Orazio die Aufregung einer Fahrt zum einstigen Tatort kaum übersteht.
Wie geht es weiter? Orazios Hausarzt Giacinto Saccomanno sagt am Telefon, Orazio habe „stark abgebaut“. Die altersüblichen Beschwerden würden durch die schweren Schäden nach dem Schlag mit der Baseballkeule verstärkt. Saccomanno spricht von chronischer Bronchitis, von Herzschwäche, Arthrose. „Es ist ein Wunder, dass er 80 geworden ist“, sagt der Arzt. Das habe Orazio der „fantastischen Pflege der Frauen“ zu verdanken, „die sind so fürsorglich, so aufmerksam“.
Als ich mich am Montag verabschiede, liegt Orazio wieder im Bett. Er nimmt meine Hand und sagt mit kaum hörbarer Stimme „Dankeschön“. Dann dreht er den Kopf zur Seite. Angelica sagt halblaut, „wenn er jetzt schläft, schläft er die Nacht wieder nicht“. Aber sie lässt ihn in Ruhe. Und versucht, sich für ein, zwei Stunden zu entspannen.
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