Der neue Bericht über rechtsextreme Tendenzen in der Rechtsprechung “Recht gegen rechts” ist erschienen. Darin befindet sich ein ausführlicher Artikel von Heike Kleffner, freie Journalistin und Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG), zu einem der größten Justizskandale der letzten Jahre in Cottbus. Der Fall aus der Silvesternacht 2016/2017 in Spremberg ist ein klassisches Beispiel dafür, wie langwierig die Strafverfolgung bei rechten Gewaltdelikten am Gerichtsbezirk Cottbus verläuft. Die schleppende und damit fehlende Aufarbeitung der Taten durch das Amts- und Landgericht Cottbus führt zu einer de facto Strafffreiheit für rechte Täter. Den Artikel in voller Länge haben wir dankenswerterweise mit Zustimmung des Fischer Verlags auf dieser Seite veröffentlicht.
Unser Positionspapier zur fehlenden Strafverfolgung in Cottbus können Sie hier nachlesen.
Kein Rassismus und
keine Strafverfolgung
Wie Ermittlungsbehörden und Justiz
in Cottbus auf Neonazi-Gewalt reagieren
Die Welle rassistischer Gewalt aus den Jahren 2015 bis 2018 ist in den Medien und im öffentlichen Diskurs längst in den Hintergrund gerückt. Doch die strafrechtliche Aufarbeitung der mehr als 3000 überwiegend rassistisch motivierten Gewalttaten alleine in den fünf ostdeutschen Bundesländern und Berlin aus diesem kurzen Zeitraum ist noch immer nicht abgeschlossen.
Noch nicht einmal besonders gravierende Tatvorwürfe und eindeutige Hinweise auf Rassismus und Rechtsextremismus als Tatmotive führen offenbar nicht zu einer zeitnahen Strafverfolgung und ihrer Würdigung. Besonders eindrücklich zeigt sich dies im Fall eines versuchten Totschlags an Abdul K. (Name geändert) in der Silvesternacht 2017 in der südbrandenburgischen Kleinstadt Spremberg. Der Täter: ein Neonazi aus dem Umfeld der rechtsextremen »Black Legion – Kampfgemeinschaft Cottbus«.
Alle Hinweise nach rechts ignoriert
Erst fünfeinhalb Jahre nachdem Abdul K. (Name geändert) morgens um drei Uhr auf der Tanzfläche der Diskothek im »City Center Spremberg« am 1. Januar 2017 völlig unvermittelt von dem stadtbekannten Neonazi und Kampfsportler Rocco W. angegriffen worden war und durch mehrere gezielte Tritte gegen Kopf, Oberkörper und Kiefer das Bewusstsein verloren sowie einen Unterkieferbruch und weitere Knochenbrüche erlitten hatte, begann am 17. Juni 2022 vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Cottbus der Prozess gegen den heute 39-jährigen Angeklagten. Dabei hatte die Polizeidirektion Brandenburg Süd nach dem brutalen Angriff innerhalb von wenigen Tagen Rocco W. als mutmaßlichen Täter ermittelt. Zeugen und Ersthelfer des schwer verletzten afghanischen Asylsuchenden Abdul K. hatten sich an die Polizei gewandt: Sie hatten Rocco W. anhand seines Facebook-Profils identifiziert und damit den Ermittlungsbehörden auch unzweifelhafte Hinweise auf dessen Einbindung in die militante Mischszene aus Neonazis und Kampfsportlern in Südbrandenburg und Ostsachsen gegeben: Das damals noch öffentlich einsehbare Facebook-Profil las sich wie ein Who’s who bundesweiter militanter Neonazi-Netzwerke und Rechtsrock-Label: mit »Gefällt mir«-Verweisen auf Facebook-Seiten u. a. der »Black Legion – Kampfgemeinschaft Cottbus«, Accounts mit den Namen von NS-Kriegsverbrechern wie »Dr. Josef Mengele«, »Adolf Hitler« oder »10. SS-Panzerdivision Frundsberg« sowie »Likes« für die Rechtsrock-Band »Race War«, die rechtsextreme Initiative »Nein zum Heim in Spremberg«, die militante Neonazi-Gruppierung »Angry Aryans«, die inzwischen verbotene Neonazi-Vereinigung »Combat 18« und für den Wahlspruch der neonazistischen Hammerskins »Brüder schweigen«.
Mit der Festnahme von Rocco W. am 18. Januar 2017 und auch nach seiner Entlassung aus einer lediglich sechstägigen Untersuchungshaft schien einer zügigen strafrechtlichen Aufarbeitung des schweren Angriffs auf Abdul K., der zu diesem Zeitpunkt immer noch in der Flüchtlingsunterkunft leben musste, gegen die die »Initiative Nein zum Heim in Spremberg« mobilisierte, wenig im Weg zu stehen. Immerhin verfasste die Staatsanwaltschaft Cottbus noch im Juni 2017 eine Anklage wegen versuchten Totschlags gegen Rocco W. Doch zur Überraschung von Abdul K. und seiner Nebenklagevertreterin Anja Lederer fand sich in der Anklage kein einziger Hinweis auf Rassismus oder Rechtsextremismus als Tatmotiv – was bei angemessener Berücksichtigung auch zu einer Anklage wegen versuchten Mordes hätte führen müssen. Stattdessen wurde als mutmaßliches Tatmotiv nunmehr die Behauptung der damaligen Verlobten des Angeklagten angeführt, wonach Abdul K. sie auf der Tanzfläche sexuell belästigt habe. Rocco W. seien daraufhin »die Sicherungen durchgebrannt«, er sei »nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen«; daran, dass es mehrerer Menschen bedurfte, um ihn von weiteren Tritten gegen den Kopf des schon am Boden liegenden verletzten Abdul K. abzubringen, habe er keine Erinnerung mehr.
Rechtsanwältin Anja Lederer erfuhr durch eine Anzeige gegen ihren Mandanten und anschließende Akteneinsicht, dass die Verlobte von Rocco W. Wochen nach dem Angriff, nach dessen Untersuchungshaft und erst in ihrer zweiten Zeuginnenvernehmung eine Strafanzeige wegen sexueller Belästigung gegen Abdul K. gestellt hatte. Deren Wortlaut übernahm die Anklage der Staatsanwaltschaft Cottbus unhinterfragt – trotz Videoaufnahmen der Tanzfläche, die sowohl den Angriff auf Abdul K. als auch das Vortatgeschehen zeigen: Abdul K., der alleine tanzt, weit weg von der Verlobten von Rocco W. Doch während der minutenlange Gewaltexzess von Rocco W. auf den Überwachungskameras in einzelnen Sequenzen und hochauflösend für die Staatsanwaltschaft und das Gericht aufbereitet wurde, verzichtete die Staatsanwaltschaft Cottbus ebenso wie der Ermittlungsführer der Polizeidirektion Cottbus darauf, die Videoaufnahmen von der Tanzfläche und den Tanzenden vor dem Angriff ebenfalls technisch aufbereiten zu lassen – und sich damit ein Bild von der Glaubwürdigkeit von Rocco W.’s Einlassung und der Zeug*innenaussagen u. a. seiner Verlobten zu verschaffen. Stattdessen beharrte der inzwischen pensionierte Ermittlungsführer der Einheit »Strukturermittlungen« im Polizeipräsidium Cottbus auch im Zeugenstand darauf, dass es nicht notwendig gewesen sei, in Richtung eines rechtsextremen oder rassistischen Tatmotivs zu ermitteln. Schließlich sei ja das Tatmotiv der behaupteten sexuellen Belästigung eindeutig gewesen – obwohl dieses vermeintliche »Motiv« tatsächlich aber erst rund einen Monat nach der Tat auftauchte. Damit ignorierte der Ermittlungsführer auch Hinweise seiner eigenen Beamten: Diese hatten unmittelbar nach dem Angriff auf Abdul K. auf eine weitere schwere rassistische Gewalttat gegen zwei afghanische Asylsuchende am 25. Dezember 2016 in unmittelbarer Nähe zum City Center Spremberg durch Security-Mitarbeiter und Bekannte von Rocco W. hingewiesen und einen möglichen Zusammenhang vermutet.
Fünf Jahre zwischen Tat und Hauptverhandlung
Doch statt einer zeitnahen Hauptverhandlung folgte auf die Anklage wegen versuchten Totschlags an Abdul K. keinerlei Terminierung durch das Landgericht Cottbus. Fünf Jahre lang schrieb Nebenklagevertreterin Anja Lederer Beschwerden und Verzögerungsrügen; schließlich reichte sie im April 2021 eine Entschädigungsklage beim Oberlandesgericht Brandenburg wegen überlanger Verfahrensdauer zum Nachteil von Abdul K. ein. Denn dass Rocco W. durch Strafnachlass von der langen Verfahrensdauer profitieren würde, war längst absehbar, wohingegen die massiven Konsequenzen des Angriffs und dessen verschleppter Aufarbeitung für Abdul K. keinerlei Würdigung durch die Justiz erfuhren.
Nachdem das Oberlandesgericht Brandenburg den Antrag auf Prozesskostenhilfe für die Entschädigungsklage abgewiesen hatte, folgte ein knappes Jahr später dann die Terminierung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung durch das Landgericht Cottbus für Juni 2022. In lediglich fünf Verhandlungstagen, deren Termine nicht mit der Nebenklage abgestimmt worden waren, lehnte die 1. Große Strafkammer mit Unterstützung der Staatsanwaltschaft sämtliche Beweisanträge der Nebenklage ab. So begründete die Kammer ihre Ablehnung des Beweisantrags der Nebenklage, das Facebook-Profil von Rocco W. beizuziehen und Zeug*innen vorzuhalten, u. a. mit den Sätzen: »Selbst wenn der Angeklagte ein gefestigtes rechtsextremes Weltbild habe, vermöge die Kammer nicht festzustellen, dass dieses zur Tat geführt habe.« Die Richter*innen verwiesen dann auf die wiederholten Behauptungen von Rocco W. und seiner Verlobten, bei dem Angriff habe es sich um eine Reaktion auf eine angebliche sexuelle Belästigung durch Abdul K. gehandelt. Auch den Beweisantrag der Nebenklage, die Videoaufnahmen von der Tanzfläche der Diskothek vor dem Angriff auf Abdul K. in der Hauptverhandlung in technisch einwandfreier und aufbereiteter Form zu zeigen, lehnte das Landgericht ab. Dabei hatte ein vom Gericht bestellter Gutachter explizit darauf hingewiesen, dass Rechtsextremismus und Rassismus grundsätzlich als eskalierende Faktoren bei Gewalttaten anzusehen seien.
Rechtsanwältin Anja Lederer sagt: Nebenkläger Abdul K. und sie wurden während der fünfjährigen Verschleppungsphase und in der fünftägigen Hauptverhandlung mit einer »Allianz aus Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht« konfrontiert. Diese Allianz habe »Rassismus und Rechtsextremismus weder als Motiv« für erheblich gehalten, noch »diesbezüglich ansatzweise ermitteln wollen.« Eine Auseinandersetzung mit der für Neonazis klassischen Legitimierung rassistischer Gewalt durch einen vermeintlichen Schutzauftrag für »deutsche Frauen« sei rundweg abgelehnt worden. Und eine Beweisaufnahme mit Zeug*innenvernehmungen fünfeinhalb Jahre nach der Tat sei ohnehin eine Farce. Mitte Juli 2022 verurteilte das Landgericht Cottbus Rocco W. dann unter Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe – mit einer auf vier Jahre ausgedehnten Bewährungszeit, »damit Rocco W. auf dem rechten Weg bleibe«, so der Vorsitzende der 1. Großen Strafkammer, und zu einer Schmerzensgeldzahlung in Höhe von 3000 Euro.
Damit wich das Gericht von den Forderungen der Staatsanwaltschaft ab: Diese hatte in ihrem Plädoyer eine dreieinhalbjährige Haftstrafe nunmehr lediglich noch wegen schwerer Körperverletzung gefordert. Zur Frage des Tatmotivs folgten Gericht und Staatsanwaltschaft den Behauptungen des angeklagten Neonazis und seiner Verlobten. Das Wort Rassismus fiel kein einziges Mal. »Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft haben einen schweren rassistischen Angriff wie eine gewöhnliche Kneipenschlägerei ›um eine Frau‹ behandelt«, kritisiert Anja Lederer. Wäre es nach der Staatsanwaltschaft und dem Gericht gegangen, wären die Zeug*innen nicht einmal zu der offenkundigen rechtsextremen und rassistischen Einstellung des Angeklagten befragt worden – seine Verbindungen in die militante südbrandenburgische Neonazi-Szene wären ebenso unter den Tisch gefallen wie das Hakenkreuz-Tattoo auf seinem Oberarm und das Überwachungsvideo von der Tat. Dieses Video widerlegt nach Ansicht der Nebenklage eindeutig die Behauptung des Angeklagten und seiner damaligen Verlobten, wonach der Angeklagte aufgrund einer angeblichen sexuellen Belästigung durch das spätere Opfer momentan die Kontrolle verloren und zugeschlagen habe.
Abdul K., der weiterhin an den Folgen des Angriffs leidet – sein Unterkieferbruch ist schlecht verheilt und bereitet ihm Schmerzen; posttraumatische Belastungsstörungen in Form von Depressionen und massiven Kopfschmerzen verfolgen ihn auch an seinem neuen Wohnort außerhalb von Brandenburg –, und seine Nebenklagevertreterin haben Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt – mit ungewissen Erfolgsaussichten. Martin Vesely, Berater bei der Opferberatung der Opferperspektive e. V. in Brandenburg, der Abdul K. und viele weitere Betroffene rassistischer Gewalt in Spremberg und im angrenzenden Neonazi-Hotspot Cottbus unterstützt, hatte schon im Juli 2021 kritisiert:
»Trotz der jüngsten Personalaufstockungen in Staatsanwaltschaft und Gericht müssen wir in Cottbus weiterhin von einem strukturellen Problem bei der juristischen Strafverfolgung politisch rechtsmotivierter Taten ausgehen. Selbst wenn die seit vielen Jahren anhängigen Verfahren nun Stück für Stück abgearbeitet werden sollten, führen die überlangen Verfahrensdauern letztlich zu Straffreiheit für rechte Täter und zum Vertrauensverlust der Betroffenen in die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats.« Eine staatliche Stelle immerhin hat im Fall von Abdul K. keinen Zweifel an der rassistischen Tatmotivation: Das Bundesamt für Justiz sprach ihm auf seinen Antrag eine Billigkeitsentschädigung als Opfer einer rechtsextremen Gewalttat zu und zeigte sich damit überzeugt vom rassistischen Hintergrund des Angriffs.
Erschreckende Diskrepanz
Dabei hatte der Gesetzgeber in Umsetzung der Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags insbesondere für die Strafverfolgungsbehörden und Justiz eine Reihe von wichtigen Gesetzesreformen verabschiedet, die die Strafverfolgung von rassistischer, antisemitischer und rechtsextremer Gewalt deutlich verbessern sollte: darunter die Anweisung für Polizeibeamte in den »Richtlinien für Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV), dass in allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten, dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden muss. Und für Staatsanwält*innen und Richter*innen gilt seit August 2015, dass nach Paragraph 46 Absatz 2 Satz 2 des Strafgesetzbuches bei der Strafzumessung »besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende« Beweggründe und Ziele von Täter*innen berücksichtigt werden müssen. Doch der Abgleich zwischen den Intentionen des Gesetzgebers und der Realität bei der Strafverfolgung auch nach schwersten antisemitisch, rassistisch und rechts motivierten Gewalttaten offenbart – nicht nur im Fall Abdul K. – weiterhin eine erschreckende Diskrepanz.
Verfahren: Landgericht Cottbus, Urteil vom 19. Juli 2022, Aktenzeichen 21 Ks 4/17.
Literatur: Opferperspektive Brandenburg, Positionspapier: Rechte Gewalt und fehlende Strafverfolgung im Gerichtsbezirk Cottbus vom 26. Januar 2021, abrufbar unter https://www.opferperspektive.de.
Nele Austermann, Andreas Fischer-Lescano, Heike Kleffner, Kati Lang, Maximilian Pichl, Ronen Steinke, Tore Vetter (Hg.): Recht gegen rechts – Report 2023
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