Über 10 000 Menschen sind seit der Wiedervereinigung Opfer rechter Gewalt geworden – so wie Orazio Giamblanco. Nachdem ihn 1996 ein Skinhead attackierte, ist der Italiener schwer behindert. Seither begleiten Tagesspiegel und PNN ihn auf dem Lebensweg. Besuch bei einem Mann, der zu kämpfen hat
Es sind diese wenigen Momente, in denen Orazio Giamblanco es schafft, ganz bei sich zu sein. In denen er nicht mühsam versuchen muss, sich verständlich zu machen. In denen er spürt, was von seiner Kraft und seiner Selbstständigkeit übrig geblieben ist. Er holt dann aus Körper und Kopf soviel Energie heraus, dass er sich selbst bestätigen kann, er sei ein Kämpfer, der nicht aufgibt. Für eine halbe Stunde am Seilzuggerät mit den vielen Gewichten, die er an langen Schnüren mit Schlaufen hoch und runter bewegt. Oder für die 20 Minuten, in denen er an diesem Tag im November mit dem Elektrorollstuhl durch Bielefeld fährt. Vom Franziskus- Hospital nach Hause. Mit einer Geschwindigkeit von zehn Kilometern in der Stunde. Wie seit mehreren Monaten schon. Unfallfrei.
In diesen Momenten zeichnet sich im Gesicht des alten Italieners ein Durchhaltewillen ab, der an den introvertierten Blick eines Marathonläufers auf den letzten Kilometern erinnert. Die ganze Konzentration gilt der eigenen Anstrengung. Orazio Giamblanco genießt das. Am Seilzuggerät im Physiotherapie-Keller des Hospitals will er vor wenigen Wochen gar nicht aufhören, die Gewichte zu wuchten. Erst 25 Kilo. „Mehr“, murmelt Giamblanco. Die Tochter seiner Lebensgefährtin sticht die Schraube in den nächsten Stahlbarren. 40 Kilo. Zehn Minuten danach wieder: „mehr“, also 50 Kilo. Als er eine halbe Stunde später mit dem Rollstuhl vom Krankenhaus wegsurrt, drückt er den Hebel an der rechten Lehne durch. Für maximales Tempo.
Orazio Giamblanco ist seit 21 Jahren schwer behindert. Das bedeutet, dass der 76 Jahre alte Mann aus Sizilien schon mehr als ein Viertel seines bisherigen Lebens in einem deformierten Körper gefangen ist. Seit am 30. September 1996 ein Skinhead im brandenburgischen Trebbin mit seiner Baselballkeule ausholte und Giamblanco am Kopf traf. Der Rechtsextremist war mit einem Kumpel unterwegs, um Italiener zu jagen, die auf einer Großbaustelle als Hilfskräfte angestellt waren. Giamblanco hielt sich erst wenige Tage in der Kleinstadt auf. Der rassistische Hass traf ihn mit voller Wucht.
Im Krankenhaus Luckenwalde retteten die Ärzte Giamblancos Leben mit einer Notoperation. Aber es war nicht zu verhindern, dass er schwer behindert bleibt. Dass er unter spastischer Lähmung leidet, dass er sich nur eingeschränkt bewegen kann, dass ihm das Sprechen schwer fällt. Und dass er oft depressiv ist. Die Hoffnung, sein Zustand könne sich verbessern, hat er längst aufgegeben.
Die Geschichte vom Überfall auf Giamblanco dürfte den Leserinnen und Lesern der PNN und des Tagesspiegels bekannt sein. Die Zeitungen berichten seit Anfang 1997 jedes Jahr über das Schicksal des kleinen, kompakten Mannes aus Sizilien. Und über das ebenfalls schwere Leben seiner jetzt 66-jährigen Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und ihrer 43 Jahre alten Tochter Efthimia. Um anhand einer Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt und dessen Angehörige zu schildern, welche Folgen der Fanatismus hat – über die Schlagzeilen zur Tat und zum Prozess gegen den Täter hinaus. Um exemplarisch darzustellen, wie es einem von wahrscheinlich weit mehr als 10 000 Opfern geht, die seit der Wiedervereinigung von Neonazis und anderen Rechten attackiert wurden. Die hohe Zahl lässt sich anhand von Polizeistatistiken zu rechter Gewaltkriminalität und ihren Opfern schätzen. Allein in diesem Jahr wurden nach vorläufigen Erkenntnissen des Bundeskriminalamts bis September mehr als 300 Menschen von Rechtsextremisten verletzt.
In den allermeisten Fällen sind die Probleme von Opfern solcher Gewalt unbekannt. Wieviele Menschen ähnlich leiden wie Giamblanco, weiß niemand. Die Langzeitstudie kann nur eine Ahnung vermitteln, was Menschen durchmachen, die mit den Spätfolgen ihrer körperlichen Verletzung und mit ihrer Traumatisierung leben müssen. Doch das ist es wert, die Geschichte unentwegt weiter zu schreiben, als Fallstudie pars pro toto. So lange es in Bielefeld irgendwie geht. Die Verzweiflung dort hat viele Facetten. Kein Jahr ist wie das zuvor.
Ein Lichtblick: während der Besuche ist eine Freundschaft entstanden. Die journalistische Distanz zu Orazio, Angelica und Efthimia, meist Efi genannt, ist zugegebenermaßen reduziert. Aber in dieser Geschichte ist jedes Jahr lehrreich. Meist bitter.
Orazio sitzt im Elektrorollstuhl vor dem Seilzuggerät. Er zieht ruckartig die Gewichte hoch, mal mit beiden Armen, dann nur mit dem rechten, dann mit dem linken. Er stöhnt, die Augen sind fast geschlossen. „Er bleibt jetzt im Rollstuhl sitzen, wenn er am Seilzug arbeitet“, sagt Jan Rombowski. Der kräftige Mann mit dem tätowierten Arm ist Physiotherapeut, er betreut Orazio schon mehrere Jahre. „Es geht stetig runter“, sagt Rombowski. Dass Orazio an Krücken von Gerät zu Gerät gehe, „habe ich schon seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen“. Ohne den Rollstuhl könne sich Orazio im Therapieraum nicht mehr bewegen. Sein Körper schaffe es nicht mehr.
2017 war für den Italiener und die beiden Frauen wieder ein schwieriges Jahr. Vielleicht sogar mehr als sonst. „Beinahe wären wir gar nicht nach Sizilien gefahren“, sagt Angelica. Die zierliche Griechin pflegt mit Hilfe ihrer ebenfalls nicht allzu kräftigen Tochter den behinderten Mann. Die jährliche Reise nach Sizilien, Orazios alte Heimat, finanziert von Spenden der Tagesspiegel- und PNN-Leser, muntert die drei immer auf. Doch im Frühjahr wäre beinahe nichts daraus geworden. „Orazios Probleme mit dem Magen waren so schlimm, dass ich mich nicht getraut habe nach Sizilien“, sagt Angelica.
Die Probleme mit der Verdauung seien auch eine Spätfolge des Schlags mit der Baseballkeule, meint Rombowski. „Die Statik des Körpers ist durch das jahrelange Sitzen im Rollstuhl verschoben.“ Halblaut fügt er hinzu, Orazio fahre mit dem Elektrorollstuhl nach Hause, weil er den Krankentransport nicht mehr vertrage. Jahrelang hatte ihn das Rote Kreuz in einem Transporter zur Krankengymnastikgefahren. In diesem Jahr wurde Orazio mehrmals schlecht. Seitdem fährt er mit dem Rollstuhl zum Hospital. Meist läuft Angelica nebenher.
Im Frühjahr ging es Orazio so schlecht, dass er wochenlang nicht zur Krankengymnastik kam. „Er war jeden Tag stundenlang auf der Toilette“, sagt Angelica, „er hat viel geweint“. Doch Efi hatte eine Idee, wie der Sizilien-Urlaub, der für Orazio und auch für die beiden erschöpften Frauen so wichtig ist, zu retten war.
Sie fragte Giovanni, ob er mitkommen könne. Giovanni, Anfang 60, ist ein Bruder Orazios und lebt auch in Bielefeld. Und er flog mit nach Sizilien. Die wahre Erholung war es für ihn nicht. „Er hat sich das anders vorgestellt“, sagt Efi. Sie und ihre Mutter spannten Giovanni ein, beim Transport des Rollstuhls zu helfen, bei den Verhandlungen im Hotel nahe Catania über ein größeres Zimmer mit mehr Platz für den Rollstuhl und für die Gänge zur Apotheke. Die öfter nötig waren als erwartet.
„Wegen der Klimaanlage hat sich Orazio eine Erkältung geholt“, sagt Efi. Von den drei Wochen Urlaub war Orazio die Hälfte der Zeit krank. Und nahezu unvermeidlich steckte er Angelica und Efi an, die an ihm häufig nah dran sind, um ihn anzuziehen, zur Toilette zu begleiten oder ihn einfach nur ein wenig aufzumuntern. Giovanni wurde zum Krankenpfleger wider Willen. „So macht Ihr Urlaub?“, habe er gefragt, erzählt Efi. Sie bezweifelt, dass Giovanni nochmal mitkommt.
Wenn Orazio auf seinen Körper schaut, wenn er seine nuschelige Stimme hört, wenn er seine Schmerzen spürt und die Depressionen quälen, wird ihm seit 21 Jahren täglich bewusst: sein Leiden ist lebenslänglich. „Manche Tage ich habe keine Lust mehr zu leben“, Orazio presst die Worte mühsam und kaum verständlich heraus. Der Skinhead, den das Landgericht Potsdam 1997 zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilte, kam nach acht Jahren und zwei Tagen aus dem Gefängnis heraus. Weil er den Angriff bereute, mit der rechten Szene brach und sogar einstige Mittäter belastete. Für Orazio gibt es keine Entlassung aus dem Schicksal.
Ebenso wenig für Angelica und Efi. „Ich habe Probleme mit dem Blutdruck, er ist viel zu hoch“, sagt Angelica. Seit Orazios „Unfall“, wie die Frauen den Angriff des Skinheads nennen, geht sie zum Psychiater. Efi inzwischen auch. Vor vier Jahren erkrankte sie an Depressionen, bekam Wahnvorstellungen und hätte sich beinahe umgebracht. „Wir sind alle immer am Kämpfen“, sagt Efi. Leider hätten sie dieses Jahr nun auch Pech im Urlaub gehabt, „aber trotzdem war Sizilien für Orazio wichtig, das ist seine Heimat, da ist die Sonne, da redet er mit den Leute in seiner Sprache“. Nach der Reise sei es Orazio auch ein bisschen besser gegangen, trotz allem. Doch jetzt sei er wieder oft depressiv. Weil die Probleme mit dem Magen nicht aufhörten. Nachts liege er oft wach und führe Selbstgespräche. „Wir versuchen dann, ihm zu helfen“, sagt Efi, „die Psyche ist wichtig“.
Gegen ihre eigenen Depressionen nimmt sie starke Tabletten. Doch sie ändern nichts daran, dass ihre Lebensträume geplatzt sind. „Ich wollte eine Familie gründen, mit drei, vier Kindern“, sagt Efi. Aber sie habe keinen Mann gefunden, der akzeptiere, dass sie ihre Mutter bei der Pflege von Orazio nicht im Stich lassen wolle. „Die Männer wollen alle Freiheit“, sagt Efi, „aber für mich ist meine Familie wichtig.“ Dafür hat sie ihre Zukunft geopfert. Und sie lebt weiter Tür an Tür zu Orazio und der Mutter, obwohl Efis Mietwohnung eigentlich zu teuer ist. Als Produktionshelferin in einer Schokoladenfabrik verdient Efi nicht viel, auch wenn sie regelmäßig Nachtschichten übernimmt. Gerade jetzt, vor Weihnachten, „wird in der Firma jeder gebraucht“, sagt Efi. Wenn sie nach Hause kommt, schaut sie erstmal bei Orazio und der Mutter vorbei. Sei keine Hilfe nötig, „falle ich todmüde ins Bett“.
Die beiden Frauen sind stille Heldinnen. Physiotherapeut Rombowski sagt, „ohne sie würde Orazio in einem Pflegeheim dahinvegetieren. Die beiden machen wahnsinnig Einsatz“.
Wie es Orazio, Angelica und Efi geht, weiß auch der Täter. 2002 kam Jan W. über eine Berliner Anwältin in Kontakt mit dem Tagesspiegel. Der kräftige Mann weinte, als er zu hören bekam, was sich in Bielefeld abspielt. Er schämte sich für die Tat. „Ich habe ja in dem Moment nich’ nachgedacht“, sagte W., „det schmerzt ja immer wieder aufs Neue, auch bei mir“. Vier Jahr später gab er dem Tagesspiegel zwei Briefe an Orazio und die Frauen mit. Monatelang hatte Jan W. um Worte gerungen. „Ich war damals einfach der größte IDIOT der Welt, der sich mit falschem Stolz durchs Leben schlug“, steht in einem Brief. Ihm werde bewusst, „was ich damals für einen riesengroßen Fehler beging, indem ich Ihr Leben zerstörte“. Orazio und die Frauen waren gerührt – und ließen W. ausrichten, dass sie ihm verzeihen. Der Ex-Skinhead war erleichtert. Am Telefon fehlten ihm die Worte.
Sie fehlen ihm auch heute, aber wohl aus einem anderen Grund. Er will dieses Jahr offenkundig mit dem Tagesspiegel nicht reden. Vermutlich hat ihn genervt, dass er 2016 gefragt wurde, warum er bei Facebook angab, die AfD zu mögen. Und die rechte Kampagne „Heimat schützen – Asylbetrug stoppen“. Jetzt ist der Eintrag zur AfD weg. Die Kampagne ist noch da.
Beim Anruf im November sagt Jan W., „ist jetzt ganz schlecht“, und drückt das Gespräch weg. Bei den weiteren Anrufen geht er gar nicht erst ran. Orazio und die Frauen fragen auch dieses Jahr, wie jedes Mal, ob der Täter sich wirklich gebessert habe. Mehr wollen sie aber auch gar nicht wissen. Für die drei ist wichtig, dass Orazio halbwegs stabil bleibt. Und sie wollen auch kommendes Jahr nach Sizilien reisen. „Wenn mein Magen nicht wieder schlimmer wird“, sagt Orazio.
Frank Jansen
Mit freundlicher Genehmigung
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