Eine gekürzte Version dieses Textes wurde zuerst in unserem Rundbrief Schattenberichte Dezember 2019 veröffentlicht.
Antonio Manuel Diogo starb im Sommer 1986 durch rassistische Gewalt. Eine Gedenkinitiative aus Bad Belzig hat sich mit dem Mord beschäftigt und erinnert an Diogo. Über die Schwierigkeit einen über 30 Jahre alten Fall zu recherchieren und der Umgang mit widersprüchlichen Erinnerungen, sprach die Opferperspektive mit Benjamin Stamer und Tabea Wedel vom Belziger Forum e.V.
Opferperspektive: Antonio Manuel Diogo starb 1986 in der damaligen DDR. Der Fall liegt über 30 Jahre zurück, wie seid ihr auf ihn gestoßen?
Benjamin Stamer: Eher zufällig erfuhren wir von dem Mord durch die Recherche des MDR, der vor eineinhalb Jahren einen kurzen Bericht über den Fall brachte. Im Sommer 1986 reiste Manuel Diogo von Berlin Lichtenberg nach Jeber-Bergfrieden (Stadt Coswig in Sachsen-Anhalt), wo er in einem Sägewerk angestellt war. Laut unseren Informationen musste er in Belzig umsteigen. Als er in Belzig in den Zug stieg, wurde von jugendlichen Skinheads verfolgt, die ihn im Zug angegriffen haben sollen. Ab dem Augenblick gibt es unterschiedliche Versionen von dem, was passiert ist. Für uns ist klar: Sie haben auf ihn eingeschlagen und ihn aus dem Zug geworfen. Es gibt Beschreibungen, die sagen, dass er zuerst mit einem Seil gefesselt und langsam aus dem Fenster auf die Gleise gelassen wurde. Ein äußerst grausamer Akt.
Opferperspektive: Das Belziger Forum hat daraufhin eine Gedenkveranstaltung organisiert.
Tabea Wedel: Wir haben die Gedenkveranstaltung am Bahnhof in Bad Belzig abgehalten, weil das ein dem Tatort nahegelegener Ort war. Dort haben wir auf einer Grünfläche vor dem Bahnhofgebäude in Bad Belzig kurz die Informationen, die wir zu dem Fall hatten, zusammengefasst, eine Schweigeminute gehalten und einen Kranz abgelegt. Dieses Jahr haben wir das nicht gemacht, weil wir nach diesem ersten Gedenken öffentlich angegangen wurden. Wir hatten da nicht nur das eine Gedenken organisiert, sondern auch eine Lesung zur rechten Gewalt in der DDR allgemein, und nach Diogos Todestag haben wir mit seinem guten Freund Ibraimo Alberto, der ihn damals zum Bahnhof gebracht hat, noch eine Veranstaltung zu dem Tatabend aus seiner Sicht gemacht. Daraufhin wurden wir dann aber in der Presse unter anderem vom ehemaligen Lokführer, der an diesem Abend den Zug gesteuert haben soll und als Ersthelfer losgeschickt wurde, der Lüge bezichtigt. Dieses Jahr waren wir ein bisschen unsicherer, wie wir das Gedenken wirklich gut abhalten können.
Opferperspektive: Es ist nicht die erste Gedenkveranstaltung, die ihr in Belzig organisiert: 1993 gab es in Belzig einen weiteren Todesfall. Der Marokkaner Belaid Baylal ist an den Spätfolgen eines rechten Übergriffes gestoben. Ihr erinnert auch an ihn. Wie wurde das Gedenken an Diogo angenommen?
Benjamin Stamer: Wir wollten das erste Gedenken eigentlich als Startschuss in Belzig nutzen, um auf diesen Fall aufmerksam zu machen. Das Echo war jedoch sehr gering. An dem Gedenken selbst haben sehr wenige Leute teilgenommen – auch wenn man das mit dem Gedenken an Belaid Baylal vergleicht, wo in der Regel schon so 20 bis 30 Personen hinkommen. Natürlich fordert dieser Fall auch ein bisschen; Belzig hat schon Probleme damit, mit einem Opfer rechter Gewalt irgendwie einen Umgang zu finden. Es gibt ein jährliches Gedenken von uns als Verein, aber man bekommt immer schnell einen Ruf als „Nestbeschmutzer“. Die Recherchen werden nicht sehr positiv aufgenommen. Der Fall Diogo war nach den Anschuldigungen des Lokführers, dass die Geschichte um seinen Tod einfach nicht wahr ist, sondern er betrunken aus dem Zug gefallen ist oder so, für einen Großteil der Bevölkerung erledigt.
Opferperspektive: Wie unterscheiden sich die beiden Fälle von 1986 und 1993?
Benjamin Stamer: Belaid Baylal ist 2000 an den Spätfolgen des Angriffs gestorben und er hat über einen sehr langen Zeitraum in Belzig gelebt. Viele Leute kannten ihn. Zudem war ausführlich dokumentiert, was genau 1993 passierte: Er war in einer Kneipe von zwei Neonazis zusammenschlagen worden, die auch angegeben haben, dass sie ihn aus ausländerfeindlichen Gründen angegriffen hätten. Bei Manuel Diogo ist die Aktenlage eine vollkommen andere. Es gibt nur einzelne Akten der Transportpolizei, die etwas darüber aussagen, wie zerstückelt die Leiche war. Sie enthalten keine konkreten Aussagen über den Tathergang. Alles was wir haben, sind die Aussagen von Ibraimo Alberto, der Manuel Diogo damals zum Zug brachte und letzten Endes Dorfgetratsche. Dass diese Tat stattgefunden hat, das ist klar.
Opferperspektive: Seht ihr Unterschiede im Umgang der DDR im Fall Diogo und der BRD bei Baylal?
Benjamin Stamer: In der DDR war sehr schnell das Ministerium für Staatssicherheit an solchen Fällen dran und hat Ermittlungsergebnisse und Akten unter Verschluss gehalten – rechtsradikale Übergriffe gab es offiziell nicht in der DDR. Als Belaid Baylal starb, gab es bereits eine Zivilgesellschaft in Ostdeutschland und auch hier draußen in Belzig, u.a. unseren Verein, der sich um rechte Gewalt sorgt und da ein kritisches Auge drauf wirft.
Tabea Wedel: Da muss man wohl maßgeblich die Zivilgesellschaft loben, weil ohne sie wahrscheinlich auch der Belaid Baylal Fall nicht so gut dokumentiert wäre, wie er es jetzt de facto ist. Von staatlicher Seite wäre das nicht so sauber und gründlich passiert.
Benjamin Stamer: Belaid Baylal war bis vor wenigen Jahren noch kein offiziell anerkanntes Opfer rechter Gewalt. Diese Anerkennung ist erst auf Druck unseres Vereins und der Opferperspektive erfolgt.
Opferperspektive: Was würdet ihr euch im Umgang mit diesen alten Todesfällen wünschen?
Benjamin Stamer: Eine staatliche Institution oder eine Fakultät einer Universität – auf jeden Fall ein gut finanzierter Rahmen – sollte diese Fälle ordentlich erforscht. Im Augenblick ist es ja so, dass ein Großteil dieser Fälle noch zivilgesellschaftlich aufgearbeitet werden und eben nicht von staatlicher Seite. Von staatlicher Seite gibt es da ganz andere Möglichkeiten der Akteneinsicht und der Recherche.
Tabea Wedel: Für mich zählt auch dazu, die Wichtigkeit solcher Aufarbeitung und die Möglichkeiten, die daraus entstehen sichtbarer zu machen. Ich finde wichtig, dass wir wegkommen von der Zuschreibung als „Nestbeschmutzern“. Es sollte vermittelt werden, dass die Aufklärung und Aufarbeitung solcher Fälle eine Stärke sind, und dass man damit nichts schlechter macht, als es ist, sondern nur gewinnen kann!
Opferperspektive: Was könnt ihre anderen Gedenkinitiativen aus eurer Erfahrung raten?
Benjamin Stamer: Ein großes Problem ist, dass uns Lüge orgeworfen wurd und noch schlimmer , dass Ibraimo Alberto, de Manuel Diogo noch zum Bahnhof gebracht hat, und der auch im Nachhinein vonstaatlicher Seite über den Fall informiert wurde, auch nicht geglaubt wird. Hier wird erneut einem Menschen, der einen Freund verloren hat und selbst schlimmste Erfahrungen mit Rassismus gemacht hat, kein Glauben geschenkt. Das erinnert sehr an die NSU-Fälle, wo man ja auch irgendwie versucht hat, im migrantischen Milieu nach Tätern zu suchen und die Betroffenen bis heute nicht ernst genommen werden. Ich denke daran sollte sich auf jeden Fall ganz klar etwas ändern. Die Perspektive der Opfer und der Betroffenen sollte deutlich wahrgenommen werden und eine wichtige Rolle in der Einschätzung dieser Fälle spielen.
Opferperspektive: Danke, dass ihr euch Zeit für dieses Gespräch genommen habt.
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