Es gab ein Leben vor dem Tod

Erst sein Tod ließ ihn obdachlos werden, machte ihn zum arbeitslosen Alkoholiker – oder prosaischer – zu einem, der am Rande der Gesellschaft lebte. Es passte so schön ins journalistische Weltbild: Zwei Angehörige der rechten Szene Templins töten einen Obdachlosen auf brutalste Weise. Sie haben ihn zertreten wie man Ungeziefer zertritt. Während des Prozesses um diesen Mord wurde viel über sein Sterben gesprochen aber nie über sein Leben.

»Hier wohnt Stippi« steht noch heute an der Tür zur ehemaligen Böttcherwerkstatt seines Vaters, die er Mitte der 90er Jahre von den Geschwistern gekauft hatte. Hier hatte ihn am frühen Morgen des 22. Juli 2008 sein Kumpel Uwe L. auf der Suche nach Alkohol tot aufgefunden. Zu Tode getreten von zwei jungen Männern. Der eine, Christian W., war bereits am Vorabend mit Bernd K. unterwegs und hatte mit ihm ein paar Bier getrunken, der andere, Sven P., stieß zufällig hinzu.

»Dort drinnen haben wir immer Verstecken und Fangen gespielt. Und Ostereier gesucht,« erinnert sich Bernd Ks. Schwester Waltraud. Die 64-jährige resolute kleine Frau beschreibt die Werkstatt des Vaters als einen Spielplatz seiner Kindheit. Nur wenige Schritte entfernt, an der Mühlenstraße im Wohnhaus der Familie, hätte er eigentlich zur Welt kommen sollen, wenn während der Schwangerschaft keine Komplikationen aufgetreten wären.

»Wir Geschwister sind ja alle zu Hause geboren wurden«, erklärt Waltraud K., »nur bei Stippi war das anders. Unsere Mutter musste ins Krankenhaus. Sie wäre fast bei der Geburt gestorben.«

Am 27. Juli 1952 wurde Bernd K. geboren. Er war das achte Kind, dazu ein Nachzügler, ein Nesthäkchen, Liebling der Mutter, und der Geschwister, Stippi eben. »So hieß er von Anfang an«, bestätigt die Schwester. Der Vater habe ihn nicht so gemocht, ergänzt sie: »Weil unsere Mutter ihn immer verhätschelt hat.«

Wilhelm Pieck, der Präsident der DDR, wurde sein Pate, und der Staat schenkte ihm ein Sparbuch mit 100 Mark, die er zu seinem 18. Geburtstag abheben durfte.

Über die Schulzeit weiß die Schwester wenig zu berichten. Acht Jahre besuchte er die Polytechnische Oberschule in Templin. »Er hätte auch zehn geschafft. Aber er konnte die Lehrerin nicht leiden. Da ist er lieber in die Lehre.«

Er machte seinen Facharbeiter für Meloration. Er wurde einer, der in der Entwässerung tätig war. Ein Baggerführer, und zwar ein geschickter. »Er war mit seinem Seilbagger genauso schnell wie die Kollegen mit den modernen Hydraulikgeräten.« erinnert sich der Schwager. »16 Jahre hat er dort gut Arbeit gemacht.«

Bernd K. wohnte weiter im elterlichen Haus. »Er wohnte in Sperlingslust«, schmunzelt die Schwester, »Hier oben direkt unterm Dach.«

1971 musste er zum Militärdienst. Er durfte der DDR in der Nähe Neubrandenburgs dienen, indem er das Rollfeld des Militärflughafens Trollenhagen fegte. »Da habe ich ihm einmal im Monat ein Päckchen geschickt. Gut darin versteckt immer eine kleine Flasche Schnaps. Das war ja verboten.«

Nach dem Militär besorgte er sich eine MZ. »Unsere Mutter hat ihm dafür das Geld geliehen«, weiß die Schwester zu berichten »Aber er hat in Raten zurückgezahlt.« Viele Raten musste er allerdings nicht zurückzahlen. Öfters ging es am Wochenende nach Boitzenburg in die Diskothek, den Freund auf dem Sozius. Es wurde gefeiert, getanzt und gesoffen. »In der Woche hat er nie gesoffen, höchstens ein Feierabendbier getrunken«, erklärt Waltraud K. »Aber an den Wochenenden, da ging es immer rund.«

Einmal war es ein zu kurzer Schlaf in einer Scheune. Die Fahrt endete im Graben. K. blieb unverletzt, der Freund starb zwei Wochen später im Krankenhaus. Bernd K. musste für zwei Jahre ins Gefängnis. Der Vater verkaufte das Motorrad, ohne seinen Sohn zu fragen.

Gearbeitet hatte er in diesen zwei Jahren in der Häftlingsbrigade im Stahlwerk Riesa. Er hatte es sogar zum Brigadier gebracht. Die Truppe arbeitete gut. Ihm wurde Bewährung angeboten. »Das wollte er nicht«, sagt die Schwester bestimmt. »Er wollte die Strafe verbüßen und danach seine Ruhe haben.«

Anfang der 80er fing er an, im Verein Tischtennis zu spielen. Er war nicht schlecht, kämpfte um die Kreismeisterschaft. Später trainierte er die Jugendmannschaft. Er fotografierte gern, entwickelte die Fotos sogar selbst. Er trank aber auch weiter Alkohol.

1987 wechselte er als Kraftfahrer in das Getränkekombinat. Er wurde Bierkutscher. Wann das Trinken in Abhängigkeit umschlug, lässt sich heute nicht mehr klären. Als er 1988 einem Magendurchbruch erlitt kam er nur knapp mit dem Leben davon.

»Er hatte riesige Schmerzen, hatte ja schon Blut im Stuhl. Dann habe ich einen Arzt geholt. Der hat ihn sofort eingewiesen.« Waltraud K. erinnert sich, das sie nach der Operation von einem Arzt stark gerüffelt wurde. »Der war richtig zornig und brüllte mich an. Warum niemand gesagt habe, dass ihr Bruder Alkoholiker sei.« Bernd K. hatte im Krankenzimmer randaliert. Die Ärzte erzwangen den kalten Entzug. Niemand aus seinem Umfeld hatte das bis dahin gemerkt, dass er alkoholabhängig war.

Bernd K. war weder nüchtern noch betrunken aggressiv. Er wird als freundlicher und lustiger Mensch geschildert, der sich zurückzog, wenn es Streit gab.

Ein Jahr später verliebten sich Bernd K. und Carola G. ineinander. »Seine ganze Art war liebenswert und freundlich,« beschreibt die Witwe Carola K. seine Wesen. Sie zog zu ihm in die Mühlenstaße. Von Alkohol bemerkte sie nichts. »Ein Feierabendbier, mehr nicht.« Zwei Töchter, Sarah und Stella, wurden geboren. 1994 heirateten die Beiden im engsten Freundeskreis. »Seiner Familie hatten wir nichts davon gesagt«, erinnert sich die Ehefrau an den Tag der Hochzeit. «Er ging einfach hoch zu Traudi und sagte, ihr braucht keinen Kaffee zu kochen. Der Tisch ist bei uns schon gedeckt. Wir haben uns heute zusammenschreiben lassen.« Nach der Geburt der zweiten Tochter zog die Familie aus der Mühlenstraße aus.

Die Wende brachte das Ende der Kombinate. Bernd K. wollte mehr Geld verdienen. Er fand eine Anstellung als Baumaschinist. Bis 2000 hatte er regelmäßig Arbeit. Danach war er mit kurzen Unterbrechungen ständig arbeitslos.

»Ohne die Arbeit fing er an, mehr zu trinken. Es war ein schleichender Prozess,« erinnert sich Carola K: »Später bin ich immer durch Templin gefahren und habe ihn gesucht.« Unzählige Male hatte sie ihn betrunken aufgelesen und nach Hause gebracht. Falls die Polizei ihn nicht schon vorher gefunden hatte. Drei Mal war er in den folgenden Jahren im Entzug. »Er hat sich immer geweigert, eine Therapie zu machen«, erzählt Carola K. »Ich lass mir doch mein Bier nicht nehmen, war dann sein Standardsatz.«

Ein Jahr vor seinem Tod löste er seine Lebensversicherung auf. Von dem Geld kaufte er sich eine Tischtennisplatte, Fotoapparate und zwei Fahrräder. Es wirkte wie ein Versuch, die Erinnerung an eine schönere Zeit wachzuhalten. Vielleicht war es auch ein Versuch, dem Leben wieder einen Sinn zu geben. Doch seine Saufkumpanen ließen das nicht zu. Die Tischtennisplatte war sofort aus der Werkstatt verschwunden. Zwei Fotoapparate und ein Fahrrad tauchten nie wieder auf. Und das verbliebene Rad fischten die Polizisten kurze Zeit nach dem Mord aus dem Kanal.

Zuerst erschienen auf gegenrede.info!

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