Sie setzt die Lesebrille auf, sie setzt sie ab, sie reibt sich mit dem Tempotuch die Augen. »Das waren endlose Tage und Nächte«, sagt Raisa Batesova, »ich habe nur gehofft, dass Kajrat wieder gesund wird.« Die Augen füllen sich mit Tränen, »ich wusste, dass man den Ausgang dieser Verletzungen nicht vorhersagen kann«. Raisa Batesova ist gelernte OP-Schwester. Kein Arzt konnte die Mutter mit freundlichen Worten trösten, Raisa Batesova ahnte, wie es um ihren Sohn Kajrat stand. Ihre Kenntnisse haben die Illusionen ausgesperrt und das Bangen noch verschlimmert. Das ist zu spüren, als sich die unscheinbare Frau offenbart, hier im Saal 2 des Landgerichts Neuruppin, im Angesicht der fünf jungen Männer, von denen einer oder mehrere oder alle Kajrat Batesov getötet haben. Den 24-jährigen Übersiedler aus Kasachstan, der in den frühen Morgenstunden des 4. Mai mit seinem Freund Maxim Kartagusov auf den ortsansässigen Jungmännertrupp traf, vor einer Diskothek im nordbrandenburgischen Wittstock.
Wie es dazu kam, ist nicht ganz klar. Die Angeklagten mit ihren gegelten Haaren sehen nicht aus wie Neonazis, sie zählen sich selbst zur Techno-Szene. Und sind doch insgeheim Rassisten? Raisa Batesova weiß es nicht. Ihr bleibt nur die Gewissheit eines unerträglichen Verlusts. Auf Russisch trägt die 44-jährige Aussiedlerin ihre Geschichte am dritten Tag des Prozesses vor, der letzte Woche begonnen hat. Es sieht so aus, als werde einer der in Brandenburg üblichen Fälle verhandelt: Eine Clique alkoholisierter Halbstarker prügelt zwei Fremde, die Schlägerei eskaliert zum Gewaltexzess. Kajrat Batesov erleidet schwere Verletzungen an Kopf und Körper, die Ärzte im Krankenhaus Pritzwalk diagnostizieren »Reißungen« an der Leber, an Magen und Magenwand, außerdem schwere Prellungen der Bauchspeicheldrüse und der rechten Niere. Kajrats Freund Maxim Kartagusov wird am Morgen des 4. Mai auch mit Wunden an Kopf, Brust und Bauch eingeliefert, doch besteht keine Lebensgefahr.
Sein Freund Kajrat liegt eine Woche im Koma. Die Mutter sitzt neben ihm und spricht in der Hoffnung, ihr Sohn nehme es irgendwie wahr. Dann wacht Kajrat auf. »In der ersten Zeit wusste er nicht, wo er war, wo er sich befindet«, sagt Raisa Batesova und faltet auf dem hellen Gerichtstisch die Hände. Über den Angriff habe sie mit dem Sohn kaum sprechen können, Kajrat erinnert sich auch nicht daran. Dann kommt der 22. Mai. Die Mutter sitzt auf der Intensivstation bei ihrem Sohn am Bett, es geht auf den Abend zu. Kajrat ist unruhig, er bittet, »Mama, nimm mich mit nach Hause.« Das geht nicht, der Arzt lehnt auch den Wunsch der Mutter ab, in der Klinik zu übernachten. »Kajrat hatte wahrscheinlich schon so eine Vorahnung«, sagt Batesova. »Er hat mich ganz lange festgehalten und mich immer wieder geküsst.« Der Angeklagte Mike Sch. blickt starr auf die Mutter, seine Kumpel halten den Blick gesenkt. Richterin Gisela Thaeren-Daig schaut beklommen zu der Aussiedlerin. »Die Ärzte haben noch gesagt, warum regen Sie sich so auf«, Raisa Batesova spricht jetzt hastig. Sie will nun die schlimmsten Erinnerungen loswerden. Als sie am 23. Mai ins Krankenhaus kommt, »lag er bewusstlos da. Neben ihm saß der Arzt. Das waren seine letzten Minuten.« Die Mutter beobachtet auf den Monitoren, wie der Blutdruck nachlässt. »Ich hab’ den Arzt gebeten, machen Sie irgendwas!« Der Arzt versucht, Kajrat zu reanimieren und bittet Batesova, das Zimmer zu verlassen. Nach wenigen Minuten ist ihr Sohn tot.
Eine Stunde lang spricht die Aussiedlerin, die in dem Verfahren als Nebenklägerin auftritt. Ihre Worte helfen auch, das Klima zu begreifen, in dem die Tat geschah. Batesova schildert, wie sie im Oktober 2001, nach dem Tod des Ehemannes, mit ihrer Familie und der ihrer Schwester Kasachstan verließ, »weil Deutschland unsere historische Heimat ist«. Ihre Mutter ist deutschstämmig, der Vater war Kasache. Die Aussiedler kamen in Freyenstein unter, einem Ort nahe Wittstock. Schon bald wurden sie angepöbelt. Jugendcliquen stoppten und beleidigten mehrmals den jüngeren Bruder Kajrats, den 19-jährigen Murat, wenn er mit dem Fahrrad zum Schwimmen fuhr. Eine Cousine »kam aus dem Gymnasium fast jeden Tag weinend nach Hause«, sagt Raisa Batesova. »Von Seiten der Jugend waren Aggressionen spürbar. Da war festzustellen, dass wir unerwünscht sind.« Auf dem Gerichtsflur berichtet Batesova, im Winter 2001 sei auch sie attackiert worden. Ein Skinhead habe sie auf dem Markt in Wittstock zu Boden gestoßen. Danach habe sie »auf unnötige Einkäufe verzichtet«.
Sohn Kajrat hingegen hatte offenbar kaum Probleme. Die Mutter erzählt dem Gericht, dass er die Rolle des Familienoberhaupts übernommen hatte. Und dass seine Frau und der kleine Sohn Artur in der kasachischen Großstadt Almaty geblieben waren, weil es die Schwiegereltern so wollten. Kajrat litt darunter.
Drei Monate nach Kajrats Tod durfte die Familie umziehen, nach Krautheim in Baden-Württemberg. Dort haben sie Verwandte, und hier liegt Kajrat begraben. In ihrer neuen Heimat fühlt sich die Familie wohl. Im Gespräch auf dem Flur fasst Batesova ihre persönliche Erfahrung so zusammen: »Baden-Württemberg ist ein ganz anderes Land.«
Am Schluss ihrer Aussage appelliert die Mutter an die Angeklagten, »auch ihr habt alle Mütter, die leiden mit! Ich wünschte, dass ihr das Gericht nicht in die Irre führt, dass ihr die Wahrheit sagt!« Danach kündigt der Anwalt des Angeklagten Marko F. eine Entschuldigung seines Mandanten an, doch Batesova will sie erst mal nicht annehmen. In der Anklage steht, Marko F. habe Kajrat »völlig enthemmt« geschlagen und getreten. Und ihm einen 17 Kilo schweren Findling auf den Oberkörper geworfen. Marko F. und die anderen Angeklagten sprechen »nur« von Prügel. An die Sache mit dem Stein kann sich angeblich keiner erinnern.
Nach Batesovas Erklärung raucht der Vater des Angeklagten Mike Sch. im Foyer eine Zigarette. »Ich kann mir vorstellen, wie das ist, wenn man ein Kind verliert.« Er bedaure »diesen schrecklichen Umstand«, aber auch er und seine Frau hätten schlaflose Nächte. Dann wirft er »den Politikern« vor, sie täten zu wenig für die Integration der Aussiedler. Raisa Batesova steht mit ihrer Anwältin und Freunden in der Nähe. Sie hört nicht, was der Vater sagt. Batesova lächelt ein wenig. Sie wirkt erleichtert. Auch wenn sie dem Gericht gesagt hat, sie habe den Eindruck, »die Situation ist schon ganz verfahren« – Batesova glaubt, die Angeklagten sagen nicht die ganze Wahrheit. Die Strafkammer möge bitte »die Gesetze zur Anwendung bringen und die Schuldigen bestrafen«.
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