»Diese Gleichgültigkeit kann ich einfach nicht begreifen«

Opferperspektive-Mitarbeiterin Olga Schell in Cottbus (Foto: Veronika Hofinger)
Opferperspektive-Mitarbeiterin Olga Schell in Cottbus (Foto: Veronika Hofinger)

Es ist vor allem die Erfahrung, als Mensch herabgewürdigt zu werden, die die Opfer derart aus der Bahn wirft. Die psychische Verletzung ist viel gravierender als die körperliche, außer bei wirklich lebensgefährlichen Angriffen. Besonders bei MigrantInnen zerstören die Taten regelrecht das Selbstbild. Sie haben sich als normale Menschen gesehen, und plötzlich wird ihnen klar gemacht, dass sie für andere minderwertig sind. Das ist ein Schock. Sie suchen eine übergeordnete Instanz, die die Gerechtigkeit wiederherstellen soll.

Mit dieser Erwartung gehen viele zur Polizei. Meiner Erfahrung nach sind die meisten PolizistInnen sich dieser Erwartungshaltung und ihrer Bedeutung überhaupt nicht bewusst. Die gucken, wie schwer sind die äußerlichen Verletzungen, und wenn da nicht viel ist, dann nehmen sie die Sache nicht besonders ernst. Ich frage die Leute immer, wie sie behandelt wurden, wenn sie eine Anzeige gestellt haben, aber da gibt es kein einheitliches Bild. Manche sagen, dass die PolizistInnen freundlich waren, manche klagen, dass sie nicht beachtet wurden, andere fühlten sich als Schuldige behandelt. Manchmal macht ja auch der Ton die Musik. Es gab einen Fall, da wurden zwei Flüchtlinge von dem Beamten konsequent geduzt, ihre deutschen Lebensgefährtinnen aber gesiezt. Am Ende riet der Polizist den Flüchtlingen noch davon ab, Strafantrag zu stellen, weil er erst einmal hören wollte, wie die Beschuldigten, zwei deutsche Männer, den Vorfall sehen. In einem anderen Fall bekam ein Vietnamese, der verprügelt worden war, eine Anzeige, weil er sich in dem Landkreis, in dem er zusammengeschlagen wurde, als Asylbewerber nicht hätte aufhalten dürfen.

Meist ist das Gericht der einzige Ort, an dem die Tat richtig besprochen wird und wo sich im Laufe des Verfahrens alle Beteiligten dazu äußern müssen. Die Erwartung der Opfer ist, dass das Unrecht anerkannt wird, das ihnen widerfahren ist. Vielen ist wichtig, dass die Diskriminierung benannt wird. Die politische Tatmotivation wird aber nur selten hervorgehoben; eigentlich nur dann, wenn die Geschädigten sich durch RechtsanwältInnen vertreten lassen, die diese Fragen aufbringen. Die StaatsanwältInnen und RichterInnen sehen ihre Aufgabe vor allem darin, den Rechtsbruch zu ahnden: Es gibt Gesetze, hier wurde dagegen verstoßen, das wird bestraft. Wenn der politische Hintergrund aber nicht berücksichtigt wird, erfüllt die Justiz nicht die Erwartungen vieler Betroffener, dass das besondere Unrecht, das ihnen widerfahren ist, festgestellt wird. Richtig fatal wird es, wenn RepräsentantInnen der staatlichen Gewalt die Ideologie der Ungleichheit, die von den Schlägern vertreten wird, reproduzieren. Ich habe einmal ein Verfahren erlebt, da hat der Staatsanwalt von dem Geschädigten immer als »N-Wort« gesprochen – genau die rassistische Beleidigung, die die betroffene Person durch die Schläger erfahren hatte.

Ein einziges Mal habe ich es erlebt, dass Angeklagte Reue zeigten. Das waren ganz normale junge Männer. Sie haben sich entschuldigt und gesagt, dass sie es sich nicht erklären könnten, weshalb sie in jener Nacht den Ausländer gejagt und auf ihn eingetreten haben. Denen habe ich es abgenommen, dass es ihnen wirklich Leid tat. Es ist schon bemerkenswert, dass die Rechten nicht einmal die Möglichkeit nutzen, sich zumindest formal bei den Opfern zu entschuldigen. Das würde sich ja strafmildernd auswirken. Ich kann es mir nur so erklären, dass sich die TäterInnen so eindeutig im Recht fühlen.

Damit stehen sie auch nicht unbedingt allein da. Oftmals wird, wenn die Verhandlung öffentlich ist, der ganze Tathergang detailliert vorgetragen. Ich stelle mir vor, dass die Freundin oder die Eltern des Täters die ganzen Details der Tat hier das erste Mal hören. Da habe ich aber nie Betroffenheit bemerkt, nicht die Frage: »Wozu ist der Mensch, den ich kenne, fähig?« Man kann nicht in die Köpfe schauen, aber wenn ich sehe, wie die Freundin nach einer solchen Schilderung in der Pause versucht, den in Haft befindlichen Mann einen Kuss auf die Wange zu drücken, da frage ich mich schon: Ist es denn gar nicht von Belang, dass man gerade gehört hat, wie dieser Mann jemanden fast totgeschlagen hat?

Das Publikum kommentiert die Verhandlung manchmal auch durch Bemerkungen oder Lachen. Ich erinnere mich an eine Verhandlung, da hatte ein Asylbewerber ausgesagt, der lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte. Aus dem Publikum kamen ununterbrochen Kommentare, die seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen sollten. Als es schließlich um die Erstattung seiner Fahrtkosten zum Gericht ging, wurde aus dem Publikum gerufen: »Guck mal, wie der angezogen ist, der hat doch Geld. Wozu soll der seine Fahrtkosten wiederkriegen?« Während der gesamten Verhandlung war ein solcher Hass im Saal zu spüren.

Für die Betroffenen ist die Opferperspektive wichtig, weil sie dort Hilfe finden, die ihnen sonst niemand in der Form anbietet. Aber was die Intervention in die politischen Verhältnisse betrifft, die die Gewalt hervorbringen, da stößt man einfach an eine Grenze. Ich bin überzeugt, dass die strukturelle Diskriminierung angegangen werden muss, wenn rechtsextreme Einstellungen zurückgedrängt werden sollen. Flüchtlingen wird eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zugewiesen, durch Gutscheinverpflegung, zentrale Unterbringung, Arbeitsverbot und so weiter. Es ist für jede und jeden sichtbar, dass diese Menschen weniger Rechte haben, und das trägt dazu bei, dass Menschen mit rassistischen Einstellungen sich legitimiert fühlen, sie anzugreifen. Wenn ich aber diese Strukturen in Frage stelle, höre ich immer das gleiche Argument: Das Gesetz schreibt es vor, dass AsylbewerberInnen weniger Rechte haben. Das wird mehr oder weniger allgemein akzeptiert, selbst von Menschen, die sich in Bündnissen gegen Rechts engagieren.

Es ist wirklich frappierend, wie weit rassistische Vorurteile verbreitet sind, auch unter Menschen, die nichts gegen AusländerInnen haben; wie leichtfertig etwa geglaubt wird, dass Flüchtlinge kriminelle Handlungen begehen. Ein Sachbearbeiter in einer Behörde sagte mir einmal über einen Asylbewerber: »Der hat ja so viel Geld.« Ich habe gefragt, wie er darauf käme. Er sagte, der habe Zigaretten gehabt, und: »Wie soll er sich die denn leisten, mit seinen 20 Euro im Monat?« Da wird angenommen, dass jemand in kriminelle Geschäfte verwickelt ist, nur weil er eine Zigarette geraucht hat – das muss man sich einmal vorstellen. Das Problem ist nicht so sehr, dass der Sachbearbeiter nun schlecht über den Asylbewerber denkt, sondern dass er auf der Grundlage solcher Einschätzungen Entscheidungen treffen kann, die schwerwiegende Konsequenzen haben können.

Vor kurzem hat ein Asylbewerber, den ich besucht habe, auf die Frage, wie es ihm ginge, geantwortet: »On est la« – »Man ist da«. In dem Heim sind viele junge Männer, sportliche Typen, die haben alle Bluthochdruck. Das ist doch nicht normal! Sie sitzen da – Akademiker, Musiker, feinsinnige Menschen – sie sitzen da, ohne jede Perspektive. Manche bauen richtig ab, kommen in die Psychiatrie, dann wieder ins Heim, dann wieder in die Psychiatrie. Bei meinem letzten Besuch in dem Heim habe ich eine Frau kennen gelernt. Sie ist staatenlos, aber ihr Mann und die Kinder haben Pässe. Die haben ihr die Kinder richtig aus dem Arm gerissen und sie zusammen mit dem Mann abgeschoben. Die Frau wird wahnsinnig vor Schmerz.

Es sind ganz viele Personen daran beteiligt, diese Menschen zu verwalten: MitarbeiterInnen der Ausländerbehörde und des Sozialamts, die Ausländerbeauftragten, das Heimpersonal, die Sicherheitsdienste – alle sehen, unter welchen Bedingungen sie leben. Alle erledigen ihre Aufgaben, manche finden es zwar schlimm, aber niemand steht auf und sagt, dass man Menschen so nicht behandeln darf. Ich glaube, wenn einer ihrer Angehörigen zu so einem Leben gezwungen wäre, würden sie alle Hebel in Bewegung setzen. Die Gleichgültigkeit, mit der das alles über Jahre, auch aus der Nähe, zur Kenntnis genommen wird, kann ich einfach nicht begreifen.

Olga Schell, aufgezeichnet am 8.12.2006

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