Fast jede Woche werden Menschen aus rechtsextremistischen Motiven, aus Haß gegen alles vermeintlich »Undeutsche« angegriffen. Beleidigungen, Drohungen, Körperverletzungen oder Morde gehören zur Tagesordnung. Sie sind insbesondere gegen Menschen aus anderen Herkunftsländern, aber auch gegen Behinderte, Obdachlose oder alternative Jugendliche gerichtet. In Politik, Sozialarbeit und Medien wird das Handeln der rechtsextremistischen Täter überwiegend mit ihren schlechten Berufsperspektiven, fehlenden Jugendeinrichtungen und Versäumnissen im Elternhaus erklärt und ein Handlungsbedarf in diesen Bereichen verortet. Demgegenüber geraten die Opfer der Taten und dringliche Veränderungen ihrer Lebensumstände allzu häufig aus dem Blickfeld.
Die Arbeit des Projektes Opferperspektive hat das Ziel, den Betroffenen zu helfen, sich nicht in einer passiven Opferrolle einzurichten, sondern aktiv zu werden und gemeinsam Perspektiven zu entwicklen. Dazu gehört, über die Vermittlung der Lebensrealität potentiell Betroffener Solidarisierungsprozesse im sozialen Umfeld auszulösen oder zu fördern. Ziel ist dabei nicht nur, die Anteilnahme am Schicksal einzelner zu ermöglichen. Es geht auch darum, die mit Ausgrenzung von Menschen verbundene Gefahr für eine demokratischer Zivilgesellschaft zu erkennen. Eine Parteinahme für die von rechter Gewalt Betroffenen und die gleichzeitige Entwicklung von Initiativen, die sich gegen Ausgrenzungsbestrebungen richten, verschaffen Handlungsalternativen anstelle von Ohnmacht und Angst. Das Schaffen von Bündnissen gegen Ausgrenzung führt zu einer Verminderung des Einflusses rechter Ideologie, zum Entzug vermeintlicher Zustimmung für rechte Gewalt in der Öffentlichkeit und damit zu einer Schwächung rechter Machtpositionen.
Im Jahr 1998 zählte die brandenburgische Polizei 100 rassistische und rechtsextreme Gewalttaten. Die Dunkelziffer ist hoch, da viele Betroffene keine Anzeige erstatten, oder die Polizei diese schlichtweg nicht aufnimmt. Die Täter sind meist männliche Jugendliche, die rechtsextremen Cliquen angehören; solche Angriffe werden aber erst in einem gesellschaftlichen Klima, das von Rassismus und völkischem Nationalismus geprägt ist, möglich. Menschen, die dem typischen Querschnitt der Bevölkerung Brandenburgs entsprechen, verweigern den Angegriffenen Hilfe oder beteiligen sich selbst an rassistischen Pöbeleien. Es ist die »Mitte der Gesellschaft«, aus der der Rassismus kommt. Umfragen zufolge ist über die Hälfte der Bevölkerung der Meinung, Ausländer seien Sozialschmarotzer und würden den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen. Kein Wunder, daß sich die rechtsextremen Gewalttäter wie Vollstrecker des Volksempfindens fühlen.
Ein rechtsextrem oder rassistisch motivierter Angriff betrifft nicht nur das individuelle Opfer. Getroffen wird ein einzelner, gemeint sind alle. Alle, die zu den Feindbildern der Rechtsextremisten passen: Migranten, alternative und linke Jugendliche (im Nazi-Jargon »Zecken«), Behinderte, Obdachlose, Schwule und Lesben. Angst macht sich breit, viele sind eingeschüchtert. Gefährliche Orte werden gemieden. Das kann ein Bahnhof nach Anbruch der Dunkelheit oder ein Platz vor dem Einkaufszentrum sein. Das Land wird durchzogen von »No-Go Areas«. Viele können sich nicht mehr frei bewegen, manche, besonders Flüchtlinge in Heimen, leben wie im Gefängnis, andere, etwa Migranten in Berlin, fahren nicht mehr nach Brandenburg.
Organisierten Rechtsextremisten kommt diese Entwicklung gelegen. Was aus der Sicht der Opfer »No-Go Areas« sind, nennen sie »national befreite Zonen«. Die Rechten, nicht mehr staatliche Institutionen, üben damit die soziale Kontrolle aus. Sie haben die Hegemonie vor Ort, sei es kulturell, indem sie Vorreiter eines völkisch-nationalistischen Lebensstils sind, sei es repressiv, indem sie Abweichler von diesem Lebensstil verfolgen und einschüchtern. Der Kampf um die Hegemonie wird in fast jeder Schule, jedem Jugendclub, in vielen Dörfern und Stadtteilen geführt, und die Rechtsextremisten erobern sich immer mehr Terrain. An vielen Orten in Brandenburg ist der rechtsextreme Mainstream alternativlos. Rechts zu sein, ist normal. Wer keinen Ärger will, paßt sich an.
Gewalt spielt bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung rechter Hegemonie eine zentrale Rolle. Durch Drohung mit Gewalt und gezielten Angriffen wird versucht, Jugendliche, die sich dem rechten Diskurs nicht anpassen, zu verdrängen. Jeder Jugendclub, der sich nicht zumindest »neutral« verhält, sondern rechte Gewalt und rechtes Denken kritisiert, jeder Schüler, der offen demokratische, »linke« Ansichten vertritt, läuft Gefahr; dem rechten Feindbild »Zecke« zugeordnet und angegriffen zu werden. Vergitterte Jugendclubs und bewaffnete Jugendliche sind nicht Ausdruck generell gestiegenen Gewaltpotentials unter Jugendlichen sondern Resultat eines demokratischen Abwehrkampfes, der viel zu oft als »Links gegen Rechts« stigmatisiert wird.
Es gibt viele Beispiele für diesen Prozeß: Ein »neutraler« Jugendclub in B, in dem monatliche »Independent«-Diskos stattfinden, wird regelmäßig von Gruppen rechter Skinheads besucht, die das Publikum bedrohen und regelrechte Angriffe auf den Jugendclub organisieren. Der Jugendclubleiter will der Gewalt begegnen, indem er versucht, die rechten Skinheads in die Klubarbeit einzubinden. Ihre Präsenz verändert die Situation in der Einrichtung. Die Umgangsformen der Rechten, ihre Sprüche und die Stärke der Gruppe führen dazu, daß andersdenkende Jugendliche vor die Wahl gestellt sind, sich anzupassen oder weg zu bleiben. Mangels Interesse bei den verbliebenen Besuchern werden die Independent-Diskos eingestellt. Öffentliche Kritik der angegriffenen Jugendlichen am Jugendclubleiter, der innerhalb der Stadt sehr angesehen ist, wird nicht zugelassen. Leserbriefe werden nicht abgedruckt. Die Jugendlichen fühlen sich von der Stadt allein gelassen und ziehen sich schließlich zurück. Ein bisher »neutraler« Jugendclub wird zunehmend rechts dominiert.
Anhand dieses Beispiels wird noch ein anderer Aspekt deutlich: Der Verdrängungsprozeß spielt sich quasi unter den Augen der Öffentlichkeit ab, wird aber von dieser nicht wahrgenommen. Die Versuche der angegriffenen Jugendlichen, sich Gehör zu verschaffen, scheitern. Niemand scheint sich für die in Bedrängnis geratenen Jugendlichen einzusetzen. Sie werden als links(extrem) abgestempelt. Die Bedrohung der einen und das Wegsehen und Ignorieren der anderen bewirken letztendlich die erfolgreiche Verdrängung von Jugendlichen, die demokratische, emanzipatorische Ansätze vertreten. Zurück bleiben Jugendliche, die das Gefühl haben, sich besser gar nicht zu positionieren – und rechtsorientierte Jugendliche.
Vor dem Hintergrund öffentlicher Ignoranz wirkt ein rechtsextrem motivierter Angriff über die konkrete Verletzung und Bedrohung einzelner hinaus auf das anvisierte Kollektiv. Die Betroffenen verstehen sehr genau, daß der Angriff, von seltenen Racheaktionen abgesehen, nicht ihnen persönlich galt. Die Einzelnen werden stellvertretend für alle angegriffen, die sich dem rechten Konsens nicht beugen wollen. Das Gefühl der Bedrohung verbreitet sich schnell.
Ausländer haben im Regelfall rassistische Diskriminierung im Alltag erfahren und sind ohnehin eingeschüchtert. Strukturelle Benachteiligungen in der Gesellschaft wie gesetzliche Aufenthaltsbeschränkungen, Arbeitsverbote und die Verweigerung demokratischer Teilhaberechte bewirken, daß die Möglichkeiten, sich als Betroffene gegen Angriffe zu wehren, beschränkt sind. Selbstverantwortlich für die eigenen Interessen einzutreten, ist zusätzlich durch Verständigungsprobleme und Rechtsunsicherheit erschwert. Als »Sozialfall«, abhängig und verwaltet von Behörden, haben sie ihre Situation hier zu erdulden. Aus der Sicht der Täter sind sie ideale Opfer.
Gewalt als Mittel zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung rechter Hegemonie hat nur Erfolg, weil so viele passiv bleiben und weg sehen. Nichtangepaßte Jugendliche, Ausländer, Aussiedler etc. werden nicht nur zusammengeschlagen, sondern sowohl während der Tat als auch danach allein gelassen. Bei einem Angriff auf einen Flüchtling wird gefragt, warum »solche« nachts auf der Straße sind. Ein Lehrer, der sich gegen rechts engagiert und dafür von rechten Skinheads krankenhausreif geprügelt wird, wird weder von seinen Kollegen noch von seinen Vorgesetzten besucht. Als er schon am Boden liegt, wird ihm gesagt, er solle sich bei der Antifa raushalten.
Die Gewalttat beinhaltet die Aufforderung, sich im Sinne der Täter zu verhalten. Allen soll klar gemacht werden, daß sie gegen die Täter keine Chance haben, weil sie von niemandem unterstützt werden. Mit der fehlenden Solidarität bestätigt sich diese Aussicht. Das Ausbleiben von Solidarisierungsprozessen mit den Angegriffenen hat auch eine Wirkung auf die Täter. Es bestätigt ihre Vorstellung von der heimlichen Zustimmung der Bevölkerung für ihre Taten. Sie sehen sich als radikale Vollstrecker der »Volksmeinung«.
Die Gleichgültigkeit und der Mangel an Solidarität mit den Angegriffenen hat noch andere Folgen: Es wird der Eindruck erweckt, daß die Gesellschaft Angst vor den rechten Schlägern hat. Es scheint, als ob sich niemand mit ihnen anlegen mag, als ob sie unangreifbar wären. Vertreter der Stadt und der Polizei suchen sogar das Gespräch mit ihnen. Dieses Bild einer unangreifbaren Gegenmacht in der Stadt bestärkt nicht nur die beabsichtigte Einschüchterung, es wirkt auch attraktiv auf andere Jugendliche. Der »Erfolg« verschafft ihnen Zulauf. Wer möchte nicht auf Seiten der Gewinner stehen? Macht ist attraktiv. Auf der Straße wird ihnen mit Respekt begegnet. Mit gesellschaftlicher Ächtung müssen sie nicht rechnen.
Für sie ist das Nichtverhalten »unbeteiligter« Mitmenschen während, aber auch nach der Tat die zweite Verletzung. Auch sie empfinden die Gleichgültigkeit als Zustimmung zu den rechtsextremistischen Tätern. Ausländer und Jugendliche fühlen sich noch mehr ausgegrenzt und in ihrem Mißtrauen gegen die deutsche Gesellschaft bestätigt. Ein Angriff führt bei dem Opfer zur Verunsicherung. Anhaltende Gefühle eigener Verletzlichkeit und eigenen Beschädigtseins sind die Folge. Abhängig von der individuellen psychischen Konstitution und der sozialen Eingebundenheit, dauert die psychische Verarbeitung der Verletzungen meist länger als die relativ schnell abheilenden körperlichen Schäden. Für angegriffene Flüchtlinge, die der anhaltenden Bedrohung aufgrund gesetzlicher Einschränkungen nicht ausweichen können und die sich ohnehin in einer ihnen feindlich gesinnten Umgebung befinden, können schon einfache symbolische Gesten viel bedeuten: eine spontane Anteilnahme, eine öffentliche Solidaritätsbezeugungen, eine Blumensendung ins Krankenhaus, all das kann ihnen helfen, ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstsicherheit wiederzugewinnen. Eine demokratisch orientierte Jugendszene wird gefördert, indem die Angebote in den Jugendeinrichtungen auf sie ausgerichtet sind. So kann ihnen deutlich gemacht werden, daß auch sie Teil dieser Gesellschaft sein sollen. Das Bild einer einheitlich rassistischen deutschen Gesellschaft wird gebrochen. Angegriffenen wie auch rechtsextremistischen Schlägern würd klar gezeigt werden, daß diese Taten nicht geduldet werden und erst recht nicht erwünscht sind.
Wenn jedoch die Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen gesellschaftliche Realität bleibt, wird der Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft zwangsläufig scheitern.
Wenn wir über Medien, Dritte oder den Betroffenen von einem Angriff erfahren, versuchen wir Kontakt zu den Angegriffenen und deren Umfeld aufzunehmen. Wir suchen sie vor Ort auf und bieten unsere Unterstützung an. Das direkte Zugehen auf die Betroffenen macht es ihnen leichter, Schwellenängste zu überwinden. Sich vor Ort mit den Angegriffenen zu treffen, verschafft uns darüber hinaus eine gute Möglichkeit, die Gesamtsituation besser erfassen zu können.
Zu Beginn aller Gespräche, ob mit einzelnen oder in Gruppen, steht immer die konkrete Tat und die Lage vor Ort im Mittelpunkt. Dabei zeigt sich immer wieder, daß es für die Betroffenen oft schon sehr viel bedeutet, daß sich jemand von außerhalb für ihr Problem interessiert. Wie wir die Menschen dann konkret unterstützen, richtet sich vor allem nach ihren eigenen Wünschen.
Da nur die wenigsten schon zuvor Erfahrungen mit dem Rechtssystem hatten, erklären wir ihnen dessen Aufbau und Funktion. Wir erörtern mögliche juristische Schritte, suchen gegebenenfalls Zeugen der Tat, helfen ihnen, einen Anwalt zu finden, der sie bei einer Nebenklage gegen den Täter vertritt, organisieren, wenn notwendig, einen Dolmetscher. Mit dem Einreichen einer Nebenklage nehmen die Opfer eine aktive Rolle im Strafverfahren ein und können somit der Gefahr begegnen, in der Verhandlung als Zeuge »auseinandergenommen« zu werden. Ist ein Prozeßtermin festgesetzt, besprechen wir mit ihnen den Ablauf. Eine Begleitung gerade der nichtdeutschen Opfer zu einem Prozeßtermin gewährt ihnen Schutz auf dem Weg zum Gericht und im Gebäude und führt häufig dazu, daß sie sich überhaupt trauen, in Anwesenheit der Täter vollständig auszusagen. Eine gerichtliche Verhandlung ist häufig eine gute Gelegenheit, eine mediale Öffentlichkeit herzustellen.
Nur ein kleiner Teil der Angriffe wird allerdings angezeigt. Gerade Jugendliche sehen in einer polizeilichen Meldung oft keinen Sinn oder haben Angst vor Racheakten der Täter. Wir erörtern die Bedingungen vor Ort und versuchen, zu einer realistischen Einschätzung der Folgen einer Anzeige bei der Polizei oder bei einer anderen zuständigen Behörde zu kommen. Wenn Angriffe nicht angezeigt werden, werden rechte Täter nicht mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert und fühlen sich in ihrer scheinbaren Unangreifbarkeit bestätigt. Angegriffene Flüchtlinge unterstützen wir bei ihrer Umsetzung in ein anderes Heim, wenn sie im Ort bedroht werden, und helfen ihnen beim Ausfüllen von Anträgen, die mit dem Angriff in Zusammenhang stehen. Oft sind Flüchtlinge als Folge eines Angriffes psychisch traumatisiert, und wir helfen ihnen, eine therapeutische Behandlungsmöglichkeit zu finden.
Oft ist es sinnvoll Medien auf den Prozeß anzusprechen. Ein wichtiger Partner bei der Vermittlung und Gestaltung von regionalen Kommunikationsprozessen sind in Brandenburg die Mobilen Beratungsteams »Bürgerverantwortung und Weltoffenheit«, gefördert aus dem Landesprogramm »Tolerantes Brandenburg«. Die Arbeit des Projektes beschränkt sich nicht nur auf die Unterstützung der individuellen Opfer durch uns. Bedeutsamer ist es, neben der Erörterung konkreter Maßnahmen über die Einbeziehung möglichst vieler Menschen einen sozialräumlichen Schutz zu erreichen.
Ein Eingreifen in Form von konkreter Hilfe für Opfern rechtsextremer Gewalt ist für die Unterstützer eine Möglichkeit, ihr antirassistisches und antifaschistisches Engagement praktisch werden zu lassen. Es eröffnet die Möglichkeit, das Problem Rechtsextremismus nicht nur von der rational-analytischen Seite zu betrachten, sondern durch die Auseinandersetzung mit den Folgen rechtsextremer Gewalt Emphatie mit den Betroffenen zu schaffen und eine stärkere emotionale Verwurzelung antifaschistischer Überzeugungen zu bewirken. Oft sind die Menschen, die vor Ort für eine weiterführende Solidarität mit Opfern rechtsextremer Gewalt zu gewinnen sind, selbst aufgrund ihres gesellschaftlichen Engagements oder ihrer nichtangepaßten kulturellen Orientierung von rechter Gewalt bedroht. Der Austausch mit anderen Opfern rechtsextremistischer Gewalt kann das Erkennen des Zusammenhangs der verschiedenen Feindbilder in der rechtsextremen Ideologie fördern. Gemeinsam ist einem Angriff auf Ausländer oder auf sogenannte »Zecken«, daß das Individuum in der Gewalttat nicht mehr zu erkennen ist. Der Angegriffene wird entmenschlicht und nur noch als Teil des Kollektivs »Ausländer« oder »Zecken« betrachtet. Oder genauer: Er wird nur deshalb angegriffen, weil auf ihn ein wahnhaft konstruiertes Feindbild projiziert wird.
In der Auseinandersetzung mit der Situation angegriffener Flüchtlinge wird darüber hinaus der Gesamtzusammenhang zwischen rassistischer Gewalt, rassistischen Einstellungen und institutionalisierter Diskriminierung deutlich. Auch das ist etwas, das für die Unterstützergruppen unmittelbar erfahrbar ist und woran sie ihre eigenen antirassistischen Positionen weiterentwickeln und schärfen können.
Jede Gewalttat gegen einzelne ist objektiv gesehen Teil einer rechten Strategie der Ausgrenzung und Vertreibung mißliebiger Personenkreise. Nur wenn man sich diese Tatsache bewußt macht, bietet das konkrete Engagement für die Angegriffenen auch die Chance, den gesellschaftlichen Diskurs von der isolierten Betrachtung der (rechter) Gewalt, wie sie in der öffentlichen Diskussion vorherrscht, wegzuführen und den Rechtsextremismus als gesamtgesellschaftliches Problem zu sehen.
Hintergrund all dieser strategischen Überlegungen ist auch die Frage, wie das Engagements gegen rechts motiviert ist und wie es sich umsetzen und aufrechterhalten läßt. Für viele antifaschistische Jugendliche war die eigene Konfrontation mit rechtsextremistischer Gewalt Ausgangspunkt ihres politischen Engagements gegen rechts. Fällt diese direkte Konfrontation weg, bzw. sind nicht sie selbst oder der eigene Jugendclub betroffen, sinkt häufig auch ihre Motivation, sich weitergehend kontinuierlich zu engagieren. Die konkrete Unterstützung von Opfern rassistischer und rechtsextremistischer Gewalt kann das politische Engagement der Jugendlichen erweitern und darüber hinaus Brücken zu anderen Lebenswelten schlagen. In der praktischen Arbeit können neue Bündnispartner gefunden und eine verbreitete Selbst- und Fremdisolation überwunden werden.
Noch ein weiterer Aspekt der Unterstützung von Opfern rechtsextremer Gewalt als antifaschistische Strategie soll hier hervorgehoben werden. Es geht um die Stabilisierung einer demokratisch orientierten Jugendszene, die der rechtsextremistisch orientierten Jugendkultur eine emanzipatorische Alternative entgegensetzt. Eine alternative Jugendkultur zum rechten Mainstream bedeutet, daß die Jugendlichen der verschiedenen Szenen immun gegen die rechte Menschenverachtung, den faschistischen Kult der Unterwerfung und Stärke, gegen die kollektiven Mythen der Rechten werden. Sie schaffen sich selbst eine Alternative, eine gelebte Gegenpositionen gegen rechts. Aber nur wenn es diesen Szenen und politischen Zusammenhängen gelingt, ihre Beziehungen auf humanistische Grundprinzipien wie Gleichheit und Menschlichkeit zu gründen, stellen sie eine reale Wertealternative zum Mainstream des rechten Autoritarismus dar. Selbstbestimmtes Engagement der Jugendlichen, Eigenverantwortung und Selbstorganisierung sind hierbei wichtige Möglichkeiten, demokratische Umgangsweisen zu lernen und umzusetzen. Antifaschismus wird so in ein gesellschaftliches emanzipatives Demokratieverständnis eingebettet. Denn dieser sollte nicht nur Gegenpol gegen rechts, sondern positiver Ausdruck demokratischen zivilgesellschaftlichen Selbstverständnisses sein.
Vorhandene demokratisch orientierte Jugendgruppen werden allerdings derzeit häufig als potentielle linke Gewalttäter, die auch nicht besser seien als die rechten, ausgegrenzt. Dabei wird verkannt, daß alternative Jugendgruppen oft selbst Opfer rechter Gewalt sind und bei ihren Versuchen, innerhalb der Stadt für ihre Bedürfnisse und Erfahrungen Gehör zu finden, häufig allein gelassen werden. Oft genug herrscht zwischen der Erwachsenenwelt und dem Erfahrungsbereich der Jugendlichen ein so großer Abstand, daß diese in die Isolierung und Kommunikationslosigkeit getrieben werden.
Die Unterstützung von angegriffenen Jugendlichen dieser Szene macht ihnen Mut, ihre Selbstisolation zu durchbrechen und sich Verbündete innerhalb der Stadt zu suchen. Sie kann einer demokratisch orientierten Jugendgruppe den Raum verschaffen, den sie innerhalb einer rechtsextremistisch dominierten Jugendszene brauchen, um aus einem Abwehrkampf in die Offensive zu kommen. Unterstützung von außen kann gerade für kleinere Gruppen wichtige Impulse geben, der rechten Bedrohung nicht nur eigene Stärke entgegenzuhalten, sondern wirkliche Alternativen zu entwickeln.
Eine solche Unterstützung muß allerdings immer am Prinzip »Hilfe zur Selbsthilfe« orientiert sein. Sie darf nicht paternalistisch über die Selbstbestimmung der Gruppe hinweggehen und fertige Handlungskonzepte überstülpen, sondern muß sie in ihrer Eigenverantwortung unterstützen und in ihrem kulturellen Ausdruck respektieren.
Wir verstehen die Unterstützung von Opfern rechtsextremer Gewalt als einen Teil einer möglichen antifaschistischen Strategie gegen Rechtsextremismus und möchten anstelle eines Fazits die in unseren Augen zentralen Elemente umreißen:
Erstens sollte eine gesellschaftliche Solidarisierung mit den Opfern rechtsextremer Gewalt mobilisiert werden, die zu einem großen Teil aus einer praktischen Unterstützung für die Opfer besteht. Die Solidarisierung hat zum Ziel, die Folgen der Angriffe für die Opfer etwas erträglicher zu machen und dabei vor allem der Einschüchterung entgegenzuwirken. Desweiteren kann sich über die Unterstützung von Opfern ein sozialer Zusammenhang bilden, der vor weiteren Angriffen schützt und für gegenseitige Unterstützung sorgt. Die Unterstützer werden mit der Perspektive der Opfer konfrontiert. Die Angriffe werden in Zusammenhänge alltäglicher, institutioneller wie nichtinstitutioneller Diskriminierung und Ausgrenzung gestellt – und so kann die Gewalt gerade in ihrem gesellschaftlichen Kontext begriffen werden. Lernprozesse werden mit dem Erkennen des Zusammenhangs von Gewalt mit bestimmten ideologischen Mustern wie z.B. völkischem Nationalismus, Sozialdarwinismus, Autoritarismus und patriarchalem Dominanzverhalten, vollzogen.
Zweitens ist eine aktive Bündnisarbeit notwendig und lohnenswert. Dabei hat sich als eine wichtige Erfahrung gezeigt, daß antifaschistische Gruppen, wenn sie an lokalen Bündnissen gegen rechts teilnehmen, ihre eigenständige Position und Strategiebildung nicht aufgeben und an ein Bündnis delegieren sollten. Andererseits besteht in Bündnisprojekten die Chance der Auseinandersetzung mit anderen Argumenten und Strategien. Dennoch dienen manche Bündnisse den Stadtverwaltungen und Parteien als Alibiveranstaltungen.
Drittens kann über die lokalen Bündnisse gegen rechts die Stadtverwaltung, die Parteien und die Polizei gedrängt werden, das Problem Rechtsextremismus nicht weiter zu negieren oder zu verharmlosen. Dazu ist es nötig, die relativierenden und negierenden Diskurse über Rechtsextremismus zu kritisieren. Diese Diskurse – um nur einige zu nennen: rechter wie linker Extremismus, Jugendgewalt, Randgruppen, Einzeltäter, Täter als Modernisierungsverlierer – sind ein Teil des Problems und behindern ein inhaltliches Begreifen.
Viertens können durch Opferunterstützung und Bündnisse Entsolidarisierungsprozesse mit den Tätern und ihrem Umfeld gefördert werden. Nötig ist nicht Verständnis, sondern ein Entzug jeglichen Respekts. Die Täter müssen durch soziale Nachteile für ihr Leben erfahren, daß rassistische Gewalt keinen Platz in einer Gesellschaft mit demokratischem Anspruch haben kann.
Aktuelles Opferperspektive