Wir stellten uns vor, dass wir von der Opferperspektive sind, dass wir gekommen sind, weil uns Freunde von Abdul in Berlin und auch die Ausländerbeauftragte auf den Angriff aufmerksam gemacht hatten, dass wir sehen wollen, wie wir ihm helfen können. Das war im Mai 1998, Abdul war unser zweiter Fall seit unserer Gründung.
Abdul begann zu erzählen. Es war in der Nacht vom 21. auf den 22. März 1998. Mit seinem Freund Patrick, wie Abdul aus dem Sudan, war er im Jugendclub neben dem Heim. Zum zweiten Mal war er hier, die Jugendlichen waren offen und nett, Patrick war schon öfter hier gewesen. Ziemlich spät war es schon geworden, die Party ging lange. Sie unterhielten sich mit zwei Mädchen, als die Tür aufging und fünf Mitglieder einer Motorrad-Gang den Club betraten. Der letzte der Männer versetzet Abdul einen Tritt ins Gesicht, Abdul stürzte auf den Boden, weitere Tritte und Schläge prasselten auf ihn ein, er wurde ohnmächtig.
Später erfuhren wir von Patrick, was während Abduls Ohnmacht geschehen war. Patrick versuchte sich zu wehren, auch er wurde geschlagen. Es gelang ihm, sich in den Nebenraum zu flüchten. Einer der Jugendlichen öffnete ihm geistesgegenwärtig das Fenster zur Flucht. Dafür wurde dieser von den Bikern geschlagen, später bedroht.
Über den Angriff zu sprechen, fiel Abdul nicht leicht. Immer wieder machte er Pausen, starrte er nach unten, wie versteinert. Vier Tage lang lag er im Krankenhaus. Jugendliche aus dem Club besuchten ihn, hielten zu ihm. Doch auf den Jugendclub wurde Druck ausgeübt, vom Motorrad-Club »McBones«. Wir lesen einen Artikel in der Lokalpresse. Der Vorsitzende des Trägervereins zog seine Anzeige wegen Sachbeschädigung zurück und sprach von einem »persönlichen Streit« zwischen einem Mitglied der »McBones« und einem Asylbewerber, den dieser ausgelöst habe. Für Abdul jedoch ist der rassistische Charakter des Angriffs unzweifelhaft, und solche öffentlichen Reaktionen, die ihn zum eigentlichen Schuldigen machen, wirken auf ihn wie eine zweite Verletzung.
Wir fragen nach der allgemeinen Lage vor Ort. Abdul traut sich nicht mehr ohne Begleitung aus dem Heim, schon gar nicht nach Anbruch der Dunkelheit. Zum Einkaufen kommt der Heimleiter mit. Mit den »Bones« sei nicht zu spaßen. Als Patrick Abdul im Krankenhaus liegen sah, war Abdul kaum wieder zu erkennen, so sehr war das Gesicht aufgeschwollen. Als er das sah, ging er zu einem Tätowierstudio, das von einem »Bones«-Mitglied betrieben wird. Dort warf er in ohnmächtiger Wut eine Scheibe ein. Die Bones rückten daraufhin zum Asylbewerberheim an und machten Patrick unmissverständlich klar, dass er es nicht überleben werde, wenn sie ihn noch einmal zu Gesicht bekämen. Patrick wurde aus Sicherheitsgründen in eine andere Stadt verlegt. Doch Abdul musste weiter in Lauchhammer bleiben, in Angst vor Racheaktionen der Bones, denn er hatte gegen sie ausgesagt. Bei der Ausländerbehörde stellte er einen Antrag auf Umverteilung nach Berlin. Der Behördenleiter will keine Gefährdung erkannt haben und lehnt den Antrag ab.
Das war die Situation, die wir vorfanden. Jeder Fall ist verschieden, einige Grundprobleme jedoch ähneln sich. Da ist einmal die rechtliche Ungewissheit, in der Opfer rassistischer Gewalttaten leben. In Abduls Fall hatte die Polizei den Angriff aufgrund der Pressemeldung nicht als fremdenfeindlich eingestuft und daher nicht vom Staatsschutz bearbeiten lassen. Entsprechend unzureichend waren die Ermittlungen, auf die ein Opfer im Normalfall keinen Einfluss hat. Daher raten wir in solchen Fällen zur Nebenklage, die es den Opfern ermöglicht, selbst die Ermittlungen nachzuvollziehen und mitzubestimmen. Wir begaben uns auf die Suche nach Augenzeugen, was sich als äußerst schwierig erwies. Die beiden Mädchen, die dabei waren, als Abdul angegriffen wurde, hatten Angst, bei der Polizei eine Aussage zu machen, sie hatten Angst vor Rache der Bones. Es bedurfte einiger Umwege wie Interviews mit Journalisten, bis die beiden Mädchen Mut zur Aussage gefasst hatten. Wir halfen Abdul bei der Suche nach einer Anwältin, die ihn in der Nebenklage vertreten würde, und nicht nur darin.
Abdul litt seit dem Überfall unter Albträumen und Depressionen. Wenn ihn etwas an den Überfall erinnerte, überwältigten ihn die Gefühle und er erstarrte. Er brauchte dringend eine psychotherapeutische Behandlung, doch nur in Berlin gibt es Einrichtungen, die Opfer mit posttraumatische Belastungsstörungen behandeln können. Wir fanden für ihn einen Therapieplatz im Universitätsklinikum, und Abdul fuhr jede Woche nach Berlin zu seiner Psychiaterin. Jede dieser Fahrten erfordert eine schriftliche Einladung, die der Ausländerbehörde vorgelegt werden muss, damit diese einen »Urlaubsschein« ausstellt, denn Asylbewerber sind an die »Residenzpflicht« gebunden. Auf einer anderen Behörde, dem Sozialamt, muss die Übernahme der Fahrtkosten beantragt werden. Jedes Mal ein bürokratischer Aufwand, jedes Mal Behördengänge.
Seine behandelnde Psychiaterin stellte Abdul eine Stellungnahme über die posttraumatische Belastungsstörung aus und wies darauf hin, dass er in einer Umgebung, in der er weiterhin Bedrohungen durch die Angreifer ausgesetzt ist, psychisch nicht genesen kann. Mit dieser Stellungnahme konnte ein weiterer Umverteilungsantrag begründet werden, dieses Mal nach Potsdam. Wir als Opferperspektive trugen Informationen über die Sicherheitslage in Lauchhammer zusammen und wandten uns damit an Potsdamer Ministerien mit der Bitte, sich für Abduls Umverteilung in ein Heim in der Nähe von Berlin einzusetzen. Die Ministerien lehnten ab. Nur der Polizei stehe eine Einschätzung der Sicherheitslage zu. Die Sichtweise und die Erfahrungen von nicht-rechten Jugendlichen, die bedroht und angegriffen werden, aber meist keine Anzeige stellen, wurden als irrelevant abgetan.
Auch die Ausländerbehörde Potsdam schickte eine Ablehnung,. Die Odyssee über Ausländerbehörden aller Landkreise im Umland von Berlin nahm ihren Gang. Eine Ablehnung folgte der anderen, mit immer neuen Begründungen meist technischer Natur. Zur Zeit gebe es leider keinen Platz, es gebe Probleme mit der Verteilungsquote, oder mit der Sozialhilfe für Altfälle, oder die Behörde des Nachbarlandkreises hatte schon abgelehnt, und man wolle den Kollegen nicht in den Rücken fallen.
Die Serie der Ablehnungen war für Abdul ein Wechselbad der Gefühle: Hoffen, Bangen, Enttäuschung. Seine psychische Verfassung verschlechterte sich wieder. Doch niemand zeigte sich persönlich für die Gesamtwirkung der einzelnen Entscheidungen verantwortlich. Jeder Sachbearbeiter versteckte sich hinter seinen Anweisungen und Vorschriften.
Wir hielten kontinuierlich Kontakt mit Abdul und trafen ihn ab und zu, wenn er in Berlin war, wo er freier atmen konnte. Aber gegenüber der organisierten Verantwortungslosigkeit der Bürokratie, gegenüber dem institutionalisierten Rassismus fühlten auch wir uns ohnmächtig.
Ende 1999 kamen die Dinge in Lauchhammer in Bewegung. Es wurde bekannt, dass das Heim geschlossen werden sollte. Alle BewohnerInnen sollten in ein anderes Heim verlegt werden, in ein winziges Dorf in der Nähe. Das neue Heim würde im Wald liegen, abseits der Zivilisation, die einzige Hausnummer der Friedhofsstraße. Einige Flüchtlinge aus Lauchhammer entschlossen sich zum Widerstand gegen die Verlegung. In Lauchhammer fühlten sie sich zwar auch nicht sicher vor Anpöbeleien und Angriffen von Neonazis, aber hier hatten sich zu ein paar nicht-rechten Jugendlichen Kontakte entwickelt, hier waren sie nicht völlig isoliert. Und solche persönlichen Verbindungen sind das beste Mittel gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung, der Basis der Angriffe.
Im gemeinsamen Engagement intensivierten sich die Beziehungen: Treffen, Diskussionen, Unterschriften sammeln, Interviews geben, sich bei Sitzungen des Kreistags einmischen, im Fernsehen auftreten. Im gemeinsamen Engagement entstanden Freundschaften einer anderen Qualität als bei den üblichen interkulturellen Begegnungen, die SchülerInnen meist von oben verordnet werden. Durch die Verlegung drohte den neuen Freundschaften jedoch sogleich ein jähes Ende.
Abdul spielte eine wichtige Rolle in der Kampagne. Für ihn war es ein Weg, aus der passiven Opferrolle auszubrechen und sich ein Stück weit Macht über sein Leben zurückzuerobern, nicht nur für sich selbst. Umso überraschender platzte im Februar 2000 die Nachricht herein, dass er nach Berlin umziehen dürfe. Seine Anwältin hatte gegen die Ablehnung der Berliner Ausländerbehörde geklagt, das Verwaltungsgericht hatte einer einstweiligen Verfügung stattgegeben.
Berlin, ein neues Heim, und wir unterstützen Abdul bei der Suche nach einer eigenen Wohnung, die er nach vielen enttäuschenden Erfahrungen mit diskriminierenden Vermietern im November 2000 schließlich fand. Aus Hamburg gehen Spenden für eine Einrichtung der Wohnung ein. Abdul hat das erste Mal nach dem Angriff die Chance, dass sich seine Lebensverhältnisse stabilisieren und er eine neue Perspektive entwickeln kann.
Was fehlt? Der Prozess gegen die Angreifer. Die Staatsanwaltschaft hatte sich zwei Jahre Zeit gelassen, um eine Anklageschrift zu erstellen, und noch einmal ein Jahr, um den Prozess anzusetzen, auf Februar 2001. Wir werden Abdul zum Prozess begleiten. Für ihn wird es eine schwere Belastung sein, seinen Peinigern gegenüber zu sitzen und die traumatischen Erlebnisse noch einmal zu erzählen. Womöglich werden die Verteidiger der Angeklagten versuchen, ihn in Widersprüche zu verwickeln, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Abduls Anwältin wird alles versuchen, das zu verhindern. Und es werden viele Jugendliche aus Lauchhammer da sein, die alten Freunde Abduls, mit denen er zusammen gekämpft hatte. Sie werden an seiner Seite stehen, denn sie haben gelernt, was Solidarität bedeutet.
Aus: Tut was! Strategien gegen Rechts. Hg. v. Ulrich Schneider. Köln: Papyrossa 2001
Aktuelles Angriff, Asylbewerber, Opferperspektive, Schläge