Karsten Tiekötter hat einen trockenen Humor. »Ich bin ein lebendiger Krückstock«, sagt der Physiotherapeut und lächelt knapp. Mehr Heiterkeit gibt die Mimik nicht her, denn Tiekötter braucht jetzt all seine Kraft. Auf einer schwarzen Hydraulikliege sitzt er direkt hinter dem kleinen, aber 83 Kilo schweren Orazio Giamblanco. Der Therapeut umklammert die Brust des Italieners, dann hebt er ihn an. Giamblanco stöhnt. Er stützt sich mit den Fingerspitzen auf einen großen, leuchtend grünen Gymnastikball. Und Giamblanco schafft es: Er kommt hoch, steht gebeugt, die Fingerspitzen kleben am leicht schwankenden Pezziball. Der Therapeut lässt los, Giamblanco hält sich, wackelt und sackt zurück auf die Liege. »Wenn er sich zu sehr anstrengt«, sagt Tiekötter, »kommen seine spastischen Krämpfe«. Giamblanco atmet schwer. Die Tortur ist noch nicht vorbei.
Es geht voran mit Orazio Giamblanco, in kleinen Schritten. Jede Bewegung ringt der 63 Jahre alte Italiener seinem schwerbeschädigten Körper ab. Seit mehr als acht Jahren, seit in Trebbin (südlich von Berlin) ein Skinhead mit seiner Baseballkeule zuschlug – auf Giamblancos Kopf. Es geschah am Abend des 30. September 1996, der Italiener war mit zwei Kollegen unterwegs. Hilfsbauarbeiter wie er, die für einen Job auf einer Großbaustelle in die Kleinstadt gekommen waren. Giamblanco hatte in einer Telefonzelle mit seiner Lebensgefährtin in Bielefeld telefoniert, er kam raus, plötzlich stand der Skinhead vor ihm und holte aus. Was dann passierte, erfuhr der Italiener erst Wochen später. Als er aus dem Koma erwachte.
Nur durch zwei Notoperationen im Krankenhaus Luckenwalde konnte sein Leben gerettet werden. Als ihn der Tagesspiegel das erste Mal besuchte, im April 1997, lag er in einer Reha-Klinik in Coppenbrügge, einem Flecken im Südwesten Niedersachsens. Damals verbrachte Giamblanco die meiste Zeit im Bett. Stumm und ohne Lebensmut. Seine Gefährtin, die Griechin Angelica Berdes, und ihre Tochter Efthimia kamen jeden Tag aus Bielefeld. Gemeinsam mit den Ärzten richteten sie den Mann ein wenig auf, körperlich und seelisch. Und so ging es weiter, Jahr für Jahr hat Giamblanco Fortschritte gemacht. Er kann nun kurze Strecken an Krücken laufen, selbstständig die Toilette aufsuchen, die Zehen wieder ein bisschen bewegen, etwas deutlicher und länger sprechen – und mit einem Elektrorollstuhl die nähere Umgebung abfahren.
Aber er muss auch Rückschläge hinnehmen – er stürzt, hat oft Schmerzen, wird depressiv, leidet unter Atemnot und einer chronischen Bronchitis. Jetzt, im Dezember 2004, ist sein Zustand allerdings besser, als die Ärzte 1997 in Coppenbrügge zu hoffen wagten. Doch eine Aussicht, wieder körperlich und psychisch gesund zu werden, gibt es nicht.
Orazio Giamblanco bleibt ein schwer gezeichnetes Opfer rechtsextremer Gewalt. Tiekötter vergleicht ihn mit Patienten, die einen schweren Schlaganfall erlitten haben. Jedes Jahr berichtet der Tagesspiegel, wie es dem Italiener geht. Als Beispiel für andere Menschen, die auch von braunen Schlägern attackiert wurden – aber in der Öffentlichkeit fast nie Gesicht und Namen haben. Wie vielen Opfern es ähnlich ergeht wie Orazio Giamblanco, der jetzt schon acht Jahre gegen seine Behinderung kämpft, weiß niemand. Doch es muss eine hohe Zahl sein. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden allein in Brandenburg 111 Menschen von rechten Schlägern verletzt.
»Wir gehen jetzt noch an die Sprossen«, sagt Karsten Tiekötter. Zu den Gerätschaften im Gymnastikraum des Bielefelder Klinikums gehören auch zwei Sprossenwände. Giamblanco zieht sich langsam an seinen Krücken von der Hydraulikliege hoch. Der Therapeut hakt eine lange Schrägbank mit einem Trittbrett in eine mittlere Sprosse ein. Der Italiener steigt auf das Trittbrett und lehnt sich auf der Schrägbank zurück. Tiekötter möchte, dass Giamblanco sein linkes Knie anwinkelt. Es macht dem Therapeuten Sorgen: Wenn Giamblanco steht, drückt es sich oft nach hinten durch und versteift. Mit einem überstreckten Bein wird es noch schwerer, beim Gang an Krücken das Gleichgewicht zu halten.
Giamblanco rutscht auf der Schrägbank leicht nach unten. Tiekötter legt eine Kissenrolle unter das linke Knie und einen Holzklotz unter den linken Fuß. Jetzt soll sich Giamblanco mit diesem Fuß abstützen. Es gelingt. Das Knie wird gerade, schnappt aber nicht nach hinten durch. Tiekötter klopft mit einer Hand von innen gegen die Kniekehle, »ich muss die motorischen Informationen zum Hirn hochschütteln«. Doch dann passiert es. Das Knie ruckt nach hinten und wird steif. »Er muss so viel motorische Kontrolle kriegen, dass er das linke Bein wieder nach vorne holen kann«, sagt Tiekötter. Aber heute sei kein guter Tag.
In diesem Jahr waren die schlechten Tage häufiger als im letzten. 2003 konnte Giamblanco dank der großzügigen Hilfe eines Berliner Stahlwerkberaters nach Sizilien fliegen, in seine alte Heimat. Mit Angelica Berdes und ihrer Tochter. Es war die erste Sizilien-Reise nach vielen Jahren. Vor allem der von Giamblanco ersehnte Besuch der Grabstätten seiner Eltern gab ihm Auftrieb. »Er hat seit dem Sommer nicht mehr geweint«, erzählte Angelica Berdes im Dezember 2003. Doch in diesem April starb einer von Giamblancos Brüdern, Francisco.
Die Trauer nach dem Tod eines nahen Angehörigen, die schon für jeden nicht-behinderten Menschen schwer ist, wirkte bei Giamblanco doppelt. »Er hat Probleme mit dem Schlafen, hat Kopfschmerzen«, sagt Berdes. Sie hätten sogar den Morgen-Kaffee abgesetzt. Der Therapeut erzählt, er habe die gymnastischen Übungen unterbrechen müssen. »Wir haben dann nur Fangopackungen gemacht.« Giamblanco habe auf dem warmen Schlamm gelegen und sich einfach nur ausgeruht. Mehr ging auch nicht, als wieder der Jahrestag des Überfalls kam. Nach dem 30. September war tagelang keine Gymnastik möglich.
Giamblancos Beschwerden übertragen sich auf seine Gefährtin. Die kleine, 53 Jahre alte Griechin ist der Belastung kaum noch gewachsen. »Die Nerven«, sagt sie und spricht nicht weiter. Alle zwei Wochen geht sie zu einem Psychiater, seit Jahren. Außerdem ist der Blutdruck zu hoch. Und Berdes leidet unter Rückenschmerzen – nach jedem Sturz Giamblancos müht sich die Frau, ihn wieder hochzuwuchten. Und in den letzten anderthalb Jahren musste Berdes auch den Tod ihrer Eltern, ihrer Schwester und einer Freundin verkraften. Wie bei Giamblanco hat die Trauer die psychischen und physischen Leiden verstärkt.
Ihren Fabrikjob gab Berdes gleich nach dem 30. September 1996 auf. Tochter Efthimia, inzwischen 30 Jahre alt, musste damals die Friseurinlehre abbrechen. Dem Chef fehlte das Verständnis für die nun kaum vermeidlichen Fehlzeiten der Auszubildenden. Sie kam morgens später, wenn ihre Mutter es wieder nicht alleine geschafft hatte, Giamblanco aus dem orthopädischen Bett zu hieven und ihn im Bad zu versorgen. Als der Beruf weg war und die Lebensperspektive nur noch die Hilfe bei der Pflege Giamblancos zu sein schien, wurde auch Efthimia Berdes depressiv.
Dann aber raffte sie sich auf und nahm im Jahr 2000 einen Aushilfsjob in einer Schokoladenfabrik an. Mit Nachtschichten und mäßigem Lohn. Doch Efthimia Berdes braucht das Geld, um die teure Wohnung bezahlen zu können, die sie gleich gegenüber ihrer Mutter und Giamblanco bezogen hat. »Sparen kann ich nichts«, sagt die junge Frau. Und erzählt, dass die erste Liebesbeziehung seit 1996, die sie in diesem Jahr mit einem Griechen einging, gescheitert sei. Der Freund habe, wie einst der Chef in der Lehre, nicht akzeptiert, dass sie sich Zeit nimmt, um Orazio und ihrer Mutter zu helfen.
Einige Hundert Kilometer entfernt lebt der Mann, der die Tragödie verursacht hat. Jan W. wurde 1997 vom Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft verurteilt, wegen versuchten Mordes. Der Täter, inzwischen 30, hat sich von der rechten Szene gelöst und mehrmals, auch gegenüber Journalisten, seine Tat bereut. Doch in diesem Jahr will er nicht mit der Presse reden, Gründe nennt Jan W. keine. »Geben Sie ihm eine Auszeit«, sagt seine Anwältin. Ihr Mandant habe Mühe, die Umbrüche in seinem Leben zu verkraften.
Der Brief, den Jan W. an Giamblanco schreiben wollte, ist noch nicht angekommen. Der Italiener weiß auch nicht, wie er reagieren würde. Dann sagt er plötzlich, er wolle noch mal nach Trebbin, zum Tatort – »ich will sehen«. Angelica Berdes und ihre Tochter rufen beinahe gleichzeitig: »Nein!« Was willst du denn bei den Rechtsradikalen, fragt Efthimia Berdes. Giamblanco schweigt. Er verrät nicht, was in ihm vorgeht.
Die Gymnastikstunde ist vorbei. Der Italiener geht mit seinen Krücken langsam zum Elektrorollstuhl im Krankenhausflur. »Große Verbesserungen erwarte ich nicht mehr«, sagt Therapeut Tiekötter. Bei einem 63-Jährigen lasse die Bewegungsfähigkeit automatisch nach. So werde der Heilungsprozess durch das Altern noch verlangsamt.
Efthimia Berdes bugsiert Giamblanco in den Rollstuhl und hakt an den Seiten die Krücken ein. Giamblanco brummelt. Er mag es nicht, im Winter draußen herumzufahren. »Sizilien«, sagt er. Sein Traum sind »drei, vier Monate im Sommer« auf der heimatlichen Insel, in eigenen zwei Zimmern. Für die letzten Jahre. Eine Reaktion wartet Giamblanco nicht ab. Der Rollstuhl surrt in die Kälte.
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