BIELEFELD Schlurfgeräusche im halbdunklen Hausflur. Ein kleiner, älterer Mann umklammert die Haltegriffe seiner Gehhilfe, einem halbhohen Gestänge mit vier Rollen. Der Mann schiebt den rechten Fuß nach vorn. Pause. Die linke Hüfte hebt sich, der linke, nach innen gekrümmte Fuß zieht nach. Wieder Pause. Der Mann starrt auf den Boden. Er hebt den Kopf und blickt zur Tür. Der rechte Fuß ruckt ein paar Zentimeter vorwärts. Eine junge Frau ruft, »der Flur ist kalt. Ich zieh’ dir deine Jacke an.« Der Mann brummt irgendwas, er will nicht gestört werden. Er muss die acht Meter Hausflur schaffen. Nach zehn Minuten stößt das Gehwägelchen an die Haustür. Innehalten. Langsam wendet der Mann das Rollgestell. Wieder liegen acht Meter vor ihm. Noch mal zehn Minuten kraftraubender Schlurfgang. Aber ohne fremde Hilfe.
Zwei Jahre sind vergangen, seit Orazio Giamblanco im brandenburgischen Trebbin von Skinheads angegriffen wurde. Einer schlug ihm am Abend des 30. September 1996 eine Baseballkeule gegen den Kopf. Mit voller Kraft. Dennoch überlebte der Italiener. Doch für den heute 57 Jahre alten Mann hat das Wort »Leben« die normale Bedeutung verloren. »Leben« heißt für Giamblanco, dem eigenen Körper zentimeterweise Fortschritte abzuringen – ohne jemals wieder normale Bewegungsabläufe erreichen zu können. Doch der Anblick des im Hausflur »wandernden« Giamblanco ist auch ermutigend. Vor einem Jahr wäre an zwanzigminütige Gehversuche nicht zu denken gewesen. Ebenso wenig an die Benutzung des rechten Arms. Giamblanco kann nach zwei Jahren wieder ein Glas Wasser zum Mund führen.
Der linke Arm hängt weiter schlaff herunter. Die Baseballkeule prallte gegen Giamblancos rechte Kopfseite. Wodurch die rechten Extremitäten schwer, die linken nahezu irreparabel geschädigt wurden. Hinzu kommen Sprachprobleme und Konzentrationsschwächen. »Jeden Tag schwindelig«, Giamblanco ist kaum zu verstehen. Immerhin kann er jetzt hintereinander kurze Sätze formulieren. Dann bekommt er keine Luft mehr.
Dass Giamblanco Fortschritte gemacht hat, ist vor allem den beiden Frauen zu verdanken, die ihm zur Seite stehen. Der Italiener lebt mit seiner Lebensgefährtin, der Griechin Angelica Berdes, und ihrer Tochter Efthimia in einer engen Wohnung in Bielefeld. Die westfälische Stadt ist seine Heimat seit 1961, als er Sizilien verließ. Jahrzehntelang hat Giamblanco hier auf dem Bau und in Pizzerien gearbeitet, doch 1991 wurde er arbeitslos. Angelockt von Nachrichten über den Bauboom in Ostdeutschland bewarb sich Giamblanco schließlich bei einem italienischen Subunternehmer, der besorgte ihm einen Job in Trebbin. Er war erst drei Tage dort, als der Skinhead zuschlug.
Zweieinhalb Wochen lag Giamblanco auf der Intensivstation des nahen Krankenhauses Luckenwalde im Koma. Als er Ende Oktober 96 halbwegs transportfähig war, bat Angelica Berdes die Ärzte inständig, Giamblanco nach Westfalen zu verlegen. Die zierliche Frau konnte die strapaziösen Fahrten nach Brandenburg nicht durchhalten. Außerdem wähnte sie ihren Orazio weiter in Gefahr, solange er in Ostdeutschland bliebe. Ende November 96 wurde Giamblanco nach Coppenbrügge verlegt. In dem 70 Kilometer von Bielefeld entfernten Ort befindet sich eine neurologische Spezialklinik. Giamblanco blieb dort bis zum Mai 1997, dann übernahm Angelica Berdes mit ihrer Tochter die Pflege. Doch immer wieder muss der Italiener in Kliniken eingeliefert werden. Schmerzen, Schlafstörungen, Schwächeanfälle, Depressionen – die Liste der Symptome ist lang. Und es kommen weitere hinzu. In diesem Jahr riefen die beiden Frauen mehrmals den Notarzt. »Orazios Bauch wurde so dick wie bei einer Schwangeren«, berichtet die 24-jährige Efthimia Berdes. Der Hausarzt Giacinto Saccomanno, ebenfalls italienischer Herkunft, erklärt: »Herr Giamblanco leidet als Folge des Schädel-Hirn-Traumas auch an Darmlähmung. Das ist lebensgefährlich.«
Angelica Berdes ist zermürbt. Sie hebt ihren Lebensgefährten ins Bett, auf die Toilette, in die Badewanne, in den Stuhl vor dem Fernseher. »Ich habe Rückenschmerzen«, die 47-jährige Frau klingt erbittert. Dann sagt sie eine halbe Minute nichts. Plötzlich redet sie drauflos, »ich sehe kaum Fortschritt. Ein Bein von Orazio ist immer steif. Ich hab’ Angst, wie soll ich das alles schaffen. Meine Nerven sind kaputt.« Angelica Berdes nimmt Beruhigungstabletten und geht zum Psychiater. Der Schlag mit der Baseballkeule hat sie beinahe mit derselben Wucht getroffen. Um Orazio pflegen zu können, gab sie ihren Fabrikjob auf. »Freizeit« ist ein Fremdwort. Wer sich zu Hause um einen Schwerbehinderten kümmert, ist rund um die Uhr gefordert.
Auch die junge Efthimia ist voll eingespannt. Ihre Ausbildung zur Friseuse brach sie ab. »Ich möchte so gerne wieder arbeiten«, der Blick wirkt fast schon trotzig, »ich muss zu etwas kommen im Leben.« Efthimia hat keinen Freund, nur am Wochenende geht sie aus. »Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen. Letztens ist Orazio mit dem Gehwagen umgekippt. Er hat am Kopf geblutet und musste ins Krankenhaus. Da muss ich doch helfen.« Wie die Mutter hadert Efthimia mit dem Schicksal, »wäre Orazio in Bielefeld geblieben, wäre nichts passiert.« Nein, sie sprächen kaum über die Gewalttat, »Orazio weint dann«. Dass er dennoch seine zweite Heimat in Schutz nimmt, versteht Efthimia nicht. »Orazio sagt, Deutschland ist sehr gut. Aber ich sage, wenn Deutschland so gut ist, gäbe es nicht so eine Ausländerfeindlichkeit.«
Was sich in den neuen Bundesländern abspielt, wird Giamblanco und den beiden Frauen im friedlichen Bielefeld kaum bewusst. Sie wissen nicht, wie sie den Angriff von Trebbin einordnen sollen. Was vor zwei Jahren passiert ist, kam völlig unerwartet. Die Folgen lassen kaum Zeit für chronologische Betrachtungen. Doch kürzlich hat ein Anruf Giamblanco aufgeschreckt. Eine Frau wollte wissen, wie er zurechtkommt. Offensichtlich handelte es sich um eine Angehörige des Italieners, den im August im nordbrandenburgischen Dedelow ein Skinhead mit Stahlkappenstiefeln zusammentrat. Giamblanco ringt um Luft, »ist noch ein Italiener kaputt gemacht«. Er will seine Empörung rauslassen, aber die Stimme kann nicht. Der Blick senkt sich auf die orthopädischen Stiefel. Dann schaut Giamblanco wieder auf. Niemand sagt was.
Rückblende. Mitte August, ein Hotel in Schwerin. Hans-Günter Eisenecker, stellvertretender Bundesvorsitzender der rechtsextremen NPD, hat sich zu einem Gespräch über den Wahlkampf seiner Partei in Mecklenburg-Vorpommern bereitgefunden. Der 48-jährige, rundliche Mann mit dem kalten Blick äußert sich auch zum Fall Giamblanco. Nicht ohne Grund: Eisenecker ist Extremist in der Doppelfunktion als Parteikader und Rechtsanwalt. Er hat vor dem Landgericht Potsdam Jan W. verteidigt, jenen Skinhead, der Giamblancos Leben zerstört hat. Eisenecker lehnt sich zurück, »mein Mandant ist ein Justizopfer.« Das Gericht verurteilte Jan W. im April 1997 wegen versuchten Mordes zu 15 Jahren Haft. Der Mittäter wurde für acht Jahre ins Gefängnis geschickt. Eisenecker hatte bei dem Prozess behauptet, Giamblanco und zwei weitere Italiener hätten die Freundinnen der Skins sexuell belästigt. »Man müsste mal den Andreozzi in Italien aufsuchen. Dann käme bestimmt die Wahrheit ans Tageslicht.« Die Wahrheit: Giovanni Andreozzi schilderte dem Gericht, wie die Schläger auf Giamblanco losgegangen waren. Daraufhin setzte Eisenecker dem verängstigten Zeugen derart zu, dass er weinend zusammenbrach.
Orazio Giamblanco war verhandlungsunfähig. Er wäre es heute noch. »Sein Zustand bleibt bei 30 Prozent der Normalität«, meint der Arzt Saccomanno, »in einigen Jahren kann er maximal 50 Prozent erreichen.« Das ist mehr, als vor einem Jahr zu erwarten war. Einen Schub habe Giamblanco der unerwartete Zuspruch vieler Tagesspiegel-Leser gegeben, meint Angelica Berdes. Eine enorme Spendensumme, mehr als 32.000 Mark, konnte im letzten Februar der Weiße Ring auf Giamblancos Konto überweisen. 100 Mark zahlt jeden Monat ein junger Berliner ein. Ungefähr die Hälfte der Spendengelder haben die beiden Frauen zurückgelegt. Ein Teil wurde jetzt in eine zehnwöchige Reise nach Griechenland, zur Familie von Angelica Berdes, investiert. Der Arzt hatte den Klimawechsel empfohlen. Die Wärme und die lockere Atmosphäre des Südens »waren gut für Orazio«, erzählt Angelica Berdes. Ihre Tochter stimmt zu, »bis dahin wollte er nicht mit dem Gehwagen laufen. Aber im Urlaub hat er es endlich gemacht.« Nun dreht Giamblanco seine Runden im Hausflur. Es ist wohl eine letzte Vision, aus der er die nötige Kraft zieht. Efthimia Berdes: »Orazio möchte nach Sizilien und sich eine kleine Wohnung kaufen. Das ist sein großer Traum.«
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