»Das mit der Gewalt gegen die Ausländer, das wird doch nur von den Medien hochgespielt. Wenn ein Deutscher von einem Ausländer angegriffen wird, da regt sich keiner drüber auf.« Ist rechte Gewalt, sind Rechtsextremismus und Rassismus nur Medienthemen, die dazu dienen, die Ostdeutschen schlecht zu machen?
Die Situation hat sich gewandelt, zumindest auf der Oberfläche. Es ist noch nicht allzu lange her, dass rechtsextreme Angriffe nur stereotype Reflexe auslösten. Am besten verschweigen, weil sonst der Ruf der Stadt in Mitleidenschaft gerät. Wenn verschweigen nicht geht, dann verharmlosen. Bestimmt hatte der Angriff keinen rassistischen Hintergrund, vermutlich war es ein privater Streit, der Ausländer wird provoziert haben. Was hat der auch nachts um die Uhrzeit auf der Straße verloren?
Die Situation hat sich gewandelt, aber nur auf der Oberfläche. Es ist mancherorts von Toleranz und Weltoffenheit die Rede, die Täter werden nicht mehr als Opfer der Verhältnisse entschuldigt, sondern von der Justiz bestraft, Opfer rechter Gewalt berichten im Fernsehen von ihren Traumata. Und die Angriffe gehen weiter.
Eigentlich ist der Rechtsextremismus heute lächerlich, nicht ernst zu nehmen. Grüppchen und Parteien, die von einer deutschen Volksgemeinschaft fabulieren und ein Viertes Reich herbeiphantasieren. Lächerlich wäre der Rechtsextremismus, wenn die Rechtsextremen nicht Menschen tot schlagen würden. Denn Rechtsextremismus ist keine Meinung, Rechtsextremismus ist eine real existierende Macht mit potenziell tödlicher Wirkung.
Guben ist überall
Die Situation hat sich nicht grundlegend gewandelt. Das rassistische Einstellungspotenzial in der Bevölkerung, dessen Vollstrecker die rechtsextremen Schläger sind, zeigt sich wenig beeindruckt von Toleranzappellen und der Rechnung, dass der Standort nützliche Ausländer brauche. Aufschlussreich ist das Beispiel von Guben. Die Hetzjagd von Guben, bei der der Algerier Farid Guendoul im Februar 1999 in den Tod getrieben wurde, löste zwar einen Aufschrei der Betroffenheit aus; in der Bevölkerung Gubens und im Gerichtssaal, bei den Verteidigern, wirkten jedoch die alten Mechanismen. Die Umkehrung von Tätern und Opfern funktionierte noch. Die Verteidiger erzählten die Täterversion, wie sie in Guben schon einen Tag nach der Tat kursierte. Danach seien die angeklagten Jugendlichen gar keine Rechtsextreme sondern eher »neutral«. Sie seien es gewesen, die zuerst von Vietnamesen in einer Disko provoziert wurden, und dann sei einer von ihnen von einem Schwarzen mit einer Machete verletzt worden. Den hätten sie nur suchen und dann der Polizei übergeben wollen. Das sei eine »völlig normale, sozial adäquate Verhaltensweise«, wie sich ein Verteidiger ausdrückte. Die wahren Opfer seien die Jugendlichen selbst, die zudem noch von den Medien als Rechtsextreme stigmatisiert würden. Auf der anderen Seite die angeblichen Opfer, die zumindest eine Mitschuld treffe. Warum rannten sie denn weg, hatten sie vielleicht etwas vor der Polizei zu verbergen? Waren sie etwa in Drogenhandel verstrickt? Und überhaupt: Wenn der so bekloppt ist und durch die Scheibe läuft! Vielleicht wussten die Ausländer ja nicht, dass man in Deutschland eine Tür mit der Klinke aufgemacht.
Diese Reaktionsweisen, die von einer Mehrheit der Gubener Bevölkerung geteilt wurden, zeigen, wie das rassistische Weltbild konstruiert ist. Auf der einen Seite das deutsche Volk als Opfergemeinschaft – immer unschuldig, immer missverstanden, von allen betrogen, beraubt und verletzt – auf der anderen Seite die »PC-Diktatur«, zusammengesetzt aus kriminellen Ausländern, rachsüchtigen feministischen Nebenklagevertreterinnen, System-Medien, die eine Charakterwäsche am deutschen Volk betreiben, und Antifa-Schlägern. Widerstand dagegen ist Notwehr.
Der Aufschrei der Betroffenheit über die Hetzjagd führte nicht zu einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Tat möglich gemacht haben. Der Aufschrei erstickte bald und ging in selbstmitleidiges Jammern über. Und Gubens Bürgermeister wurde im November 2001 abgewählt, weil er sich »mehr um die Polen und die Asylbewerber als um uns gekümmert« hat. Der neue Bürgermeister gibt zu verstehen: »Das war doch keine Hetzjagd, sondern eher eine Verkettung unglücklicher Umstände.« Rassisten möchten mit unbequemen Fragen nicht weiter behelligt werden.
Guben ist überal
Unter der Oberfläche medialer Toleranzdiskurse lebt das rassistische Weltbild fort. Die rechtsextreme Gewalt ist sein bisweilen tödlicher Ausdruck, auch die stereotypen Reaktionen auf rechtsextreme Gewalt sind in ihm angelegt. Erst im Zusammenspiel mit dem öffentlichen Verharmlosen und Verdrehen entfalten die Taten die von den Rechtsextremen beabsichtigte Wirkung: »Scheiß Ausländer! Verpiss dich aus unserem Land!«
Andere Zeit, anderer Ort, selber Mechanismus. Nicht mehr Guben sondern Schwedt im Jahr 1993. Ein Lehrer, der offen gegen Rechte auftritt, wird vor dem Café »Lisa« von Nazi-Skinheads verprügelt. Es gelingt ihm zu fliehen, doch ein paar Straßen weiter holen ihn maskierte Schläger ein. Sie treten ihm ins Gesicht und schlagen auf ihn ein. Als das Opfer schon regungslos am Boden liegt, streicht einer der Täter über dessen Kopf und sagt fast freundlich: »Halt dich raus bei der Antifa, sonst kommen wir wieder.« F. wird ins Krankenhaus eingeliefert. Sein linkes Auge ist vollständig zugeschwollen. Die Diagnose: Nasenbeinbruch und Gehirnerschütterung. Niemand, kein einziger Lehrer, kein Schulleiter, kein Vertreter der Elternschaft solidarisierte sich öffentlich mit dem zusammengeschlagenen Lehrer. Die Wirkung auf ihn: er hat sich von politischem Engagement zurückgezogen, noch heute spricht er nicht mit der Presse.
Das Nicht-Verhalten gegenüber einer rechtsextremen Gewalttat bedeutet für die Opfer eins: praktische Entsolidarisierung. Erst das befestigt die Macht der Täter, erst das bewirkt die Ausgrenzung. Wie würde eine Strategie gegen die Täterversion der rechtsextremen Angriffe aussehen? Was lässt sich dem rassistischen Weltbild, dem breiten rassistischen Einstellungspotenzial entgegensetzen?
Einen Versuch haben wir gestartet. Die »Opferperspektive« ist nicht nur ein kleiner Verein in Brandenburg, der Opfer rechtsextremer Gewalt berät. Die Opferperspektive ist eigentlich ein Prinzip, das mit der konsequenten Parteinahme auf Seiten der Opfer anfängt und mit praktischer Unterstützung weitergeht. Das bedeutet zuallererst: auf die Angegriffenen zugehen und ihnen zeigen, dass sich nicht alle entsolidarisiert haben. Dass es Menschen gibt, die nicht achselzuckend am Unrecht der Angriffe vorbeigehen, sondern sich so empören, dass sie auch eingreifen würden. Die Anteil nehmen, aber nicht vor Betroffenheit gelähmt sind, sondern den Versuch unternehmen, die Sichtweise der Angegriffenen nachvollziehen. Nur so kann gemeinsam mit den Angegriffenen überlegt werden, was helfen könnte.
Ziel der Unterstützung ist es, den Angriffen so weit wie möglich ihre Wirkung zu nehmen. Also den Angegriffenen Wege zu organisieren, so dass sie nicht in einer passiven Opferrolle verharren und sich aus dem Leben zurückziehen. Ihnen Instrumente an die Hand geben, mit denen sie ein Stück weit die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen und wieder selbstbestimmt Handelnde werden können. Konkret bedeutet das, ihnen vermitteln, welche Rechte sie haben und wie sie diese Rechte durchsetzen können. Oder nach AnwältInnen für eine Nebenklage suchen. Oder nach Therapieplätzen suchen, falls sie unter einer Traumatisierung leiden. Sie in Konflikten mit Behörden unterstützen, falls die Behörden sie zwingen, weiter am Ort des Angriffs zu leben. Sie bei Polizei und Gericht begleiten.
Guben ist überal
Das Interesse der Opfer rechter Gewalt ist es jedoch nicht nur, so gut wie möglich die Folgen eines Angriff zu verarbeiten. Der Angriff hätte nicht geschehen dürfen und darf nicht wieder geschehen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Angriff möglich gemacht haben, müssen sich ändern. Die rassistische Stimmung in der Bevölkerung, die von den Tätern schlagend umgesetzt wurde, muss sich ändern. Doch wo anfangen? Die Perspektive der Opfer ermöglicht wichtige Aufschlüsse und Lernprozesse für die UnterstützerInnen.
Die erste Erfahrung ist, wie lebensfeindlich der Angriff ist. Der Täter beansprucht alle Macht über das Leben, selbst wenn der Angriff objektiv nicht lebensbedrohlich ist. Das Opfer muss mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs rechnen, und sei es nur bei einem einfachen Schlag. Es ist eine extreme, existenzielle Erfahrung von Macht und Ohnmacht. Selbst in dieser Situation wehrt sich etwas im Opfer, und sei es nur, indem es sich vor Zerstörung schützt und überlebt. Wer diese Erfahrung nachvollzieht, den lassen die Angriffe nicht mehr kalt, die überlegt, was gegen rechtsextreme Gewalt getan werden könnte. Es ist wie eine Übung für das eigene Vorstellungsvermögen und für eine humane Sensibilität.
Die zweite Erfahrung ist, dass sich die Gewalt nicht von ihrem Kontext trennen lässt. Eine der ersten Fragen, die sich Opfer nach einem Angriff stellen, ist: »Warum ist mir das passiert? Ich habe ihnen doch gar nichts getan, die kennen mich ja nicht mal.« Die Antwort kann nur lauten: Ja, der Angriff hat nichts mit dir als Person zu tun, die irgend etwas getan oder nicht getan hätte. Der Angriff ist keine Strafe für irgend etwas. Der Angriff hat allein mit den Vorstellungen der Täter zu tun, und in diesen Vorstellungen lebst du nicht als besonderer Mensch mit Name, Gesicht und Geschichte, sondern du kommst nur vor als Exemplar eines Kollektivs. Nur weil sie dich wahrnehmen als Exemplar einer »Feindgruppe«, greifen sie dich an. Was sie über diese Gruppe denken, welche Schlechtigkeiten sie ihr unterstellen, das hat nun ganz und gar nichts mit dir zu tun. Sie haben nur ihr Feindbild auf dich projeziert, weil sie irgendeinen Gewinn davon haben, und sei er nur eingebildet. Genau darin liegt die Gewalt des rassistischen Denkens, das jede Individualität zerstört. Damit lässt sich das Unrecht des Rassismus erkennen, jedes Rassismus.
Die Erfahrung geht noch weiter. Nicht nur MigrantInnen werden aus Rassismus angegriffen, auch andere Minderheiten, seien es Hiphopper, Linke, Schwule oder Obdachlose, werden aus einem ähnlich gestrickten Feindbild-Denken angegriffen. Der Zusammenhang der Feindbilder öffnet Einblicke in den Rechtsextremismus. Rechtsextremismus ist unter diesem Aspekt ein Projekt zur gewaltsamen Vereinheitlichung gesellschaftlicher Vielfalt nach sozialdarwinistischen Kriterien. Diese Erkenntnis könnte ein Ausgangspunkt für eine gegenseitige Solidarisierung der angegriffenen Minderheiten sein, Brücken zwischen communities und Szenen, die ansonsten aneinander vorbei leben.
Die Erfahrung der Opfer ist noch umfassender. Es sind nicht nur die gewalttätigen Angriffe, die das Klima vergiften und zur Ausgrenzung von Minderheiten beitragen. Viele Opfer erleben die feindseligen Blicke auf der Straße, die verletzenden Beschimpfungen und Beleidigungen als Schläge mit eben solcher Wirkung. Und nicht nur die gewalttätigen Neonazis, auch die scheinbar normalen, sich selbst als »neutral« bezeichnenden Bürger stricken mit an der Ausgrenzung. In Schwedt wurde eine afghanische Flüchtlingsfamilie drei Jahre lang mit einem Kleinterror überzogen – die 13-jährige Tochter wurde als »Ausländersau« beschimpft und verfolgt, die Mutter als »Bettlerin« diffamiert, auf die Fußmatte vor der Wohnungstür wurde uriniert, Steine und Knallkörper wurden auf den Balkon geworfen. Ein bekannter rechtsextremer Jugendlicher verdächtigte den Vater, im Supermarkt gestohlen zu haben, und die Verkäuferin führte eine Durchsuchung des Vaters vor allen Kunden durch. Fast jede Woche Demütigungen und Anfeindungen, das warf die Familie auf ihre Wohnung zurück, die sie wie ein Gefängnis fast nicht mehr verließen, schon gar nichts nachts. Ihr Vertrauen zur deutschen Gesellschaft war nachhaltig gestört, die soziale Isolation warft sie in Depressionen. Bis endlich, nach langem Kampf, die Ausländerbehörde einen Umzug in eine andere Stadt erlaubte.
Die Opfererfahrung umfasst den Rassismus auf der Straße unterhalb der Gewaltschwelle ebenso wie die Diskriminierungen durch Behörden und Gesetze, die besonders Flüchtlinge zu einer unsicheren Lebensperspektive oder zu perspektivloser Untätigkeit verdammen. Manchmal ist schwer zu entscheiden, welche Gewalt verheerender ist: die Gewalt der Neonazis oder die Gewalt der Ausgrenzung durch institutionellen Rassismus. Die Verweigerung gleicher Rechte trägt zur Vorstellung der Minderwertigkeit der Flüchtlinge bei und macht sie zu bevorzugten Angriffsobjekten. Diese Zusammenhänge zu erkennen wäre der erste Schritt, um die Ursachen der rechtsextremen Gewalt zum Thema zu machen und zu bekämpfen.
Guben ist überal
Wir haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass sich in den Orten, wo rechtsextreme Gewalttaten stattgefunden haben und wir die Opfer unterstützen, Gruppen finden, die bereit sind, sich diesen Erfahrungen auszusetzen und sich mit den Opfern und den potenziell von der Gewalt Betroffenen zu solidarisieren. Denn sie können eine Basis sein, um das Engagement gegen Rechtsextremismus aus dem beliebigem Toleranzgerede herauszuhalten und die Täterversion zurückzuweisen. Das heißt zuallererst, die Angriffe zu dokumentieren und in einen Zusammenhang zu stellen, Öffentlichkeit zu schaffen für die Perspektive der Opfer auf Rechtsextremismus und Rassismus. Werden diese Erfahrungen in die kommunalen Bündnisse gegen Rechts eingebracht, bieten sie die Chance zu einer wesentlich konkreteren Verortung und Handlungsperspektive als der kleinste gemeinsame Nenner, unter dem sich viele dieser Bündnisse konstituiert haben: für den guten Ruf der eigenen Stadt bzw. gegen Extremismus und Gewalt. Warum schrecken manche Opfer z.B. vor Anzeigen zurück? Haben sie Angst vor der Rache der Täter, kann hier ein wirksamer Schutz organisiert werden? Oder haben sie schlechte Erfahrungen mit der Polizei, die sie abgewiesen hat, wenn sie alleine und ohne Dolmetscher Anzeige stellen wollten? Wie kann diese Situation verbessert werden?
Oder ein anderes Feld: wie kann sich eine nicht-rechte Jugendgruppe organisieren, wenn sie sich nicht durch die einschüchternde Präsenz von Rechtsextremen aus den Clubs und dem öffentlichen Raum verdrängen lassen will? Wie kann eine solche Gruppe gestärkt werden, damit sie nicht in der fatalistischen Opferrolle verharrt, sondern neue Bündnispartner gewinnt und handlungsfähig wird?
Wir haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass es möglich ist, Gegenpole zur rechten Hegemonie zu stärken und das Klima vor Ort zu verschieben. Eine Schlüsselrolle dabei spielt, wie mit Opfern umgegangen wird. Kein bloßes Medienthema.
Erschienen in: Auf den Spuren der Zivilgesellschaft – _Recherchebroschüre Rechtsextremismus, Pfeffer und Salz _e.V. (Hsgb.), Angermünde 2001
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