Der Fortschritt wirkt winzig und hat doch eine enorme Wirkung. Orazio Giamblanco kann an seinem linken Fuß die Zehen wieder bewegen. Kurz vor und zurück. Das kostet Kraft, der Italiener würde die Zehengymnastik kaum länger als ein, zwei Minuten durchhalten. Aber nach sieben Jahren mit einem tauben, verbogenen Fuß kann Giamblanco spüren, dass seine linken Zehen ihm etwas besseren Halt geben. Dass er mit seinen Krücken stabiler steht und sicherer im Krebsgang weiterkommt.
Giamblanco lächelt, »geht schon besser«. Er sitzt auf einer hydraulischen Liege im Klinikum Bielefeld, ein junger Physiotherapeut knetet den Fuß, drückt auf Sehnen, massiert die Fußsohle mit einer grauen, elektrischen Gumminoppenbürste. »Das ist ein Vibramat«, sagt Heiko Seibt, der junge, groß gewachsene Mann im weißen Kittel. Das Gerät surrt, scheint aber Giamblanco nicht zu kitzeln. So weit ist der Fuß noch nicht. Doch der Therapeut ist zufrieden. »Allein das aktive Zehenheben ist klasse.« Giamblanco lächelt stumm. Zum Sprechen reicht die Kraft jetzt nicht mehr.
Vor sieben Jahren gab es keinen Arzt oder Therapeuten, der dem Italiener »aktives Zehenheben« oder gar einen Gang an Krücken zugetraut hätte. Ende 1996 war Giamblanco weitgehend gelähmt. Er konnte kaum reden, litt unter Kopfschmerzen, Albträumen, Depressionen. Es war schon ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte – nachdem knapp drei Monate zuvor, am 30. September, in der Kleinstadt Trebbin ein Skinhead zugeschlagen hatte. Mit seiner Baseballkeule traf er Giamblanco am Kopf. In einer Notoperation retteten die Ärzte im Krankenhaus Luckenwalde das Leben des Hilfsbauarbeiters, der erst wenige Tage zuvor aus Bielefeld nach Brandenburg gereist war. Und ahnungslos jungen Rechtsextremisten in die Arme lief.
Die spastische Lähmung wird für immer bleiben. Giamblanco, heute 62 Jahre alt, wird auch nie wieder normal sprechen können. Und er ist für den Rest seines Lebens traumatisiert. Aber Giamblanco hat in den sieben Jahren seinem Körper – und der Psyche – viele kleine Fortschritte abgerungen. Er kann inzwischen alleine essen, die Toilette aufsuchen und, seit 2002, mit einem Elektrorollstuhl in der näheren Umgebung herumfahren. Der Tagesspiegel hat jedes Jahr berichtet. Giamblancos größter Erfolg ist eine Reise in die alte, zuletzt in den achtziger Jahren besuchte Heimat Sizilien. Zusammen mit seiner griechischen Lebensgefährtin, der zierlichen, 53 Jahre alten Angelica Berdes und ihrer 29-jährigen Tochter Efthimia hat er sich im vergangenen Juni diesen Traum erfüllt. Den er trotz der Behinderung und der Skepsis von Verwandten und Bekannten nie aufgegeben hat.
Schon der erste sizilianische Luftzug beflügelt. Als Giamblanco am Mittag des 22. Juni aus dem Flugzeug tritt und oben von der Gangway die Hügel rings um Catania sieht, ruckt er nach vorne. Anstatt auf einen vom Flughafen bestellten Pfleger zu warten, der ihn die Treppe hinunterbegleitet, wagt sich Giamblanco selbst an die 17 Stufen. Nein, er will keine Hilfe; der Protest von Angelica Berdes wird ignoriert. Ängstlich, aber auch erstaunt beobachten Berdes und ihre Tochter, wie ihr Orazio zum ersten Mal seit jenem September 1996 aus eigener Kraft eine längere Treppe bewältigt. Unten angekommen, nuschelt Giamblanco lächelnd sein »geht schon«. Die Reise in die Heimat hat bereits in den Minuten nach der Ankunft gewirkt.
Den Flug, das Hotel und zwei Mietwagen hat ein Berliner organisiert. Der Stahl-Manager Ulrich Siegers las im Dezember 2001 eine Reportage über Giamblanco. Das Schlusswort war dessen Wunsch, noch einmal nach Sizilien zu kommen. »Da hab’ ich mir gedacht: Das muss ich machen«, sagt Siegers, »ich hab’ die Zeit, ich hab’ das Geld, ich hab’ die Freiflüge.« Und er hat eine eigene leidvolle Erfahrung, die für Giamblancos Schicksal sensibilisiert. Siegers’ Frau wurde 1978 in London von einem Bus angefahren und ist schwer behindert. Viel mehr möchte der 60-Jährige über sich und seine Familie nicht in der Zeitung lesen. Er hebt Giamblanco aus dem Rollstuhl und in den Wagen, er hält Angelica Berdes die Tür auf, er setzt sich ans Steuer und braust hochtourig los.
Siegers hat sich auch nicht entmutigen lassen, als der erste Reiseversuch im letzten Moment scheiterte. Mitte März 2002 stand er schon am Flughafen Hannover, doch Giamblanco kam nicht. Die gewaltige Freude auf das Wiedersehen mit Sizilien brachte seine fragile Psyche durcheinander. Auf der Taxifahrt von Bielefeld zum Flughafen musste sich Giamblanco so oft übergeben, dass Angelica Berdes entschied: zurück. Danach lag Giamblanco weinend im Bett, tagelang. Die Baseballkeule hatte wieder einmal getroffen, Jahre nach der Tatnacht in Trebbin.
Es gelingt Giamblanco erst im Juni 2003, an den Ort zu kommen, den er unbedingt sehen wollte: Agira, seine alte Heimatstadt, in der auch die Eltern begraben sind. Auf einer sonnenverbrannten steilen Bergkuppe kleben die Häuser eng aneinander, überragt von einer wuchtigen Kirche und einer Burg.
Der Friedhof befindet sich auf einem hügeligen Ausläufer, da will Giamblanco hin. In der Mittagshitze steigt er, gestützt von Angelica Berdes, die Stufen zu dem Totenhaus hinauf. Im Halbdunkel sind mehr als 200 Fächer zu erkennen, versiegelt mit Marmorplatten. Auf einer steht »Manetto Filippa«, daneben prangt das ovale Schwarzweiß-Foto einer alten Frau mit streng zurückgekämmten Haaren. Giamblanco flüstert »Mamma«, führt langsam die rechte Hand an die Lippen und drückt einen Kuss auf die Fingerspitzen. Dann streckt er den Arm aus, die Hand berührt das Foto. Links daneben liegt der Vater Salvatore. Auch sein Foto berührt Orazio Giamblanco mit den angefeuchteten Fingerspitzen. Angelica und Efthimia Berdes schauen zu. Und achten darauf, dass Giamblanco, der sich leicht schwankend auf nur eine Krücke stützt, das Gleichgewicht hält.
Neben diesem Höhepunkt hat die Reise allerdings auch heikle Momente. Der große Clan, aus dem Giamblanco stammt, interessierte sich nicht allzu sehr für das Schicksal des Verwandten aus Bielefeld, obwohl auch das italienische Fernsehen und sizilianische Zeitungen über den rechtsextremen Angriff von Trebbin berichtet hatten. Die Verwandtschaft nahm Orazio Giamblanco übel, dass er sich von seiner ebenfalls aus Agira stammenden Ehefrau getrennt und mit einer Ausländerin, der Griechin Berdes, zusammengetan hatte. Bittere Ironie: Das Opfer rassistischer Gewalt bekam auch in der eigenen Familie fremdenfeindliche Ressentiments zu spüren.
So reagieren Giamblancos Brüder Francesco und Giuseppe, tief gebräunte derbe Mannsbilder, etwas verlegen, als sie nach vielen Jahren Orazio wiedersehen – mit Krücken. Doch die Frauen des Clans und die Kinder begegnen Giamblanco, Angelica Berdes und ihrer Tochter herzlich und offenbar ohne Vorbehalte. In einem schmalen Haus im engen Dörfchen Gagliano Castelferrato wird üppig aufgetischt und stundenlang in einem italienisch-deutsch-griechischen Mischmasch aufeinander eingeredet. Am Schluss jedoch, als Angelica und Efthimia Berdes mit viel Geschick Giamblanco in den Mietwagen bugsieren, ist der Clan ganz still. Im Halbkreis stehen die sonst so lebhaften Sizilianer um das Auto herum. Die Mienen verraten eine etwas verschämte Bewunderung für die Mühe der Griechinnen. Es scheint, als seien die beiden jetzt anerkannt.
Die Reise hat auch bei Orazio Giamblanco ein kleines Wunder bewirkt. »Er ist seit Sizilien viel ruhiger«, sagt Angelica Berdes im Dezember in Bielefeld, die Depressionen hätten nachgelassen. Nur am Jahrestag des Überfalls, am 30. September, »hat Orazio wieder geweint, egal, was man gesagt hat«. Giamblanco hebt die rechte Hand und murmelt, »viele Tage denke ich für mich alleine, warum ist das geschehen?« Stille. Angelica Berdes und die Tochter schauen sich an. Sie verstehen und leiden mit. Die Baseballkeule trifft auch die beiden Frauen.
Angelica Berdes hatte nach dem »Unfall«, wie sie den Angriff nennt, ihren Fabrikjob aufgegeben. Die anstrengende Pflege fordert einen hohen Preis – die Griechin leidet unter Rückenschmerzen und Bluthochdruck und sucht seit Jahren regelmäßig einen Psychiater auf. Tochter Efthimia scheint robust, hat aber auch viel einstecken müssen. Sie sah sich gezwungen, nach dem Überfall auf Giamblanco ihre Lehre als Friseurin abzubrechen, weil ihr Chef kein Verständnis für die unvermeidlichen, pflegebedingten Fehlstunden hatte. Nach jahrelanger Arbeitslosigkeit hat Efthimia Berdes nun einen festen Job in einer Schokoladenfabrik – meistens sieben Tage die Woche, im Dreischichtsystem. Die junge Griechin braucht jeden Cent, um sich die teure Wohnung leisten zu können, die sie dem hilfebedürftigen Giamblanco und ihrer oft überforderten Mutter zuliebe im selben Haus gemietet hat.
Und der Täter? Jan W. verbüßt 15 Jahre Haft. Das Landgericht Potsdam wertete im Prozess 1997 den Angriff auf Giamblanco als versuchten Mord. Inzwischen hat W. sich von der rechten Szene getrennt und sogar ein paar ehemalige »Kameraden«, die in der Tatnacht ebenfalls Italiener attackiert hatten, belastet. Die einstigen Kumpane kamen allerdings 2002 und in diesem Jahr mit milden Strafen davon. Jan W., heute 29 Jahre alt, hat sich auch öffentlich von Gewalt distanziert und sein Helden-Image in der Szene demontiert. Doch das enorme Medieninteresse im letzten Jahr irritiert ihn auch. »Ich will nicht der Vorzeige-Aussteiger Brandenburgs sein«, sagt er heute und will in keinem Film und keiner Zeitung mehr erscheinen. Eines aber ist ihm wichtig: »Ich hoffe, dass die Reise nach Sizilien Herrn Giamblanco viel Kraft gegeben hat.« Und: »Was damals in Trebbin passiert ist, tut mir unendlich leid.«
Der Vibramat surrt noch mal an der Fußsohle entlang. Dann fordert der Physiotherapeut Giamblanco auf, sich alleine zu erheben. Der Italiener presst die Hände auf die Liege und winkelt die Arme an. Ächzend kommt er hoch, der Kopf wird rot. Giamblanco steht. Nach vorne gebeugt, wacklig. Therapeut Seibt stützt ihn. Schließlich schafft es Giamblanco, an nur einer Krücke langsam aus dem Behandlungszimmer zu gehen, hinaus zum Elektrorollstuhl. Er sinkt hinein und lächelt hintergründig. »Wir fahren noch mal nach Sizilien«, sagt Giamblanco , als wolle er nur einen Scherz machen. Dann nickt er. »Geht schon.«
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