Ein ruhiges, geräumiges Zimmer, heller Holzfußboden, in sanftem Braun gestrichene Wände. Die Tür zum Balkon ist offen, auf zwei weiße Plastikliegen scheint die Sonne. Damit ihre Strahlen nicht ins Zimmer dringen, sind die Vorhänge von beiden Seiten fast bis zur Tür zugezogen. Zwei Betten stehen sich im Raum gegenüber, eins mit dem Kopfende zur linken Wand, das andere, etwa zweieinhalb Meter entfernt, zur Rechten. Hier liegt Orazio Giamblanco, ein Mann mit schwarzem, lockigen Haar, das an den Schläfen in silbriges Grau übergeht. Nur sein Kopf ist zu sehen, der Körper ruht unter einer hellbraunen Decke. Giamblanco rührt sich nicht.
Zwei Frauen kommen auf ihn zu. »Hallo Orazio, wie geht’s Dir?«, sagt die ältere Frau. Keine Antwort. Die Jüngere fragt: »Orazio, möchtest Du aufstehen?« Giamblanco brummt irgendwas. Die ältere Frau zieht die Decke zurück, dann greift sie dem Mann unter die Schultern. Die jüngere nimmt seine Beine und hebt sie an. Giamblanco wird aufgerichtet und in Sitzposition zur Bettkante gedreht. Die beiden Frauen ziehen ihm hohe orthopädische Stiefel an, dann hieven sie ihn in einen Rollstuhl. Orazio Giamblanco ist 57 Jahre alt, geboren in Italien, seit 1961 in Deutschland. Und seit einem Jahr Krüppel. Genauer: seit dem Abend des 30. September 1996, als im brandenburgischen Trebbin zwei Skinheads aus einem Trabbi sprangen. Der größere von beiden schwang seine Baseballkeule. Mit voller Wucht traf er den Bauarbeiter an der rechten Kopfseite. Weshalb er den linken Arm und das linke Bein kaum bewegen kann. Aber auch rechts hat Giamblanco Probleme. Und mit dem Sehen. Mit der Konzentration. Mit dem Sprechen. Die Sätze bestehen nur aus vier, fünf, maximal sechs Worten. »Kopf immer schwer.« Luft holen. »Immer schwindelig.« Nur jede zweite Äußerung ist sofort zu verstehen. Immerhin. Vor einem halben Jahr war ein Gespräch so gut wie unmöglich.
Da lag Giamblanco in der Rehabilitationsklinik »Lindenbrunn«, im niedersächsischen Coppenbrügge. Ende Mai kam er heraus. Jetzt liegt Giamblanco wieder in einer Reha-Klinik, in Bad Oeynhausen. Drei Monate war er zu Hause, in einer kleinen Wohnung in Bielefeld. Die, wie eben möglich, behindertengerecht umgerüstet wurde, mit elektrisch verstellbarem Pflegebett, erhöhtem Toilettensitz, Badewannenlifter. Es ging nicht. Trotz Krankengymnastik, trotz medikamentöser Behandlung, trotz der Hilfe seiner zierlichen, 46 Jahre alten Freundin Angelica Berdes und ihrer 23-jährigen Tochter Efthimia. »Wollte nur, dass einer da ist.« Pause. »Habe immer Angst gehabt … von morgens bis abends geweint.« Giamblanco hebt mühsam die rechte Hand vors Gesicht. Der Besucher soll seine Tränen nicht sehen. In diesem September sah der Hausarzt keinen anderen Ausweg, als Giamblanco in ein Bielefelder Krankenhaus einzuweisen. Von dort ging es zur »Anschlussbehandlung« nach Bad Oeynhausen. Erst mal für drei Wochen. Wahrscheinlich für länger.
Ein Jahr ist herum. Orazio Giamblanco weiß, dass er nie wieder gesund wird. Ärzte und Therapeuten hoffen auf »kleine Fortschritte«. Sie sind nur zu erzielen, wenn Giamblanco das Äußerste an Motivation und verbliebener Kraft aus sich herausholt. In dem Bewusstsein, bis ans Lebensende auf Hilfe beim Gehen, Essen, Waschen angewiesen zu sein. Diesen Widerspruch erträgt Giamblanco nicht. Offenbar unablässig hadert er mit seinem Schicksal. Nachts liegt er lange wach. »Schlafe bis zwölf Uhr … schlafe bis zwei Uhr … dann schwer zu schlafen … überlege immer.« Giamblanco kann seinem Trauma nicht entrinnen. Zumal Demütigungen und Sorgen hinzugekommen sind, die den Albdruck verlängern.
Angelica Berdes und ihre Tochter Efi haben Giamblanco Zeitungsartikel über den Prozess vorgelesen. Er musste hören, was die Freundinnen der beiden Skins vor dem Potsdamer Landgericht behaupteten: »Der hat gesagt, wir sind hier, um eure Frauen zu ficken.« Dieser Satz quält Giamblanco fast so wie die Schläge mit der Baseballkeule. »Ich hab’ kein Mensch schlecht gemacht.« Sein Mund zittert leicht, die Augen füllen sich mit Tränen. »Guck’ mal, was bin jetzt … bin kein Mensch mehr.« Der Hinweis auf das harte Urteil des Gerichts beruhigt Giamblanco nicht. 15 Jahre für den Haupttäter, acht Jahre für seinen Kumpanen – »die müssen hundert Jahre … bis in den Tod … was der getan … ohne Grund«. Für den Mann im Rollstuhl gibt es kein Verzeihen. Haftstrafen laufen ab. Seine Behinderung währt lebenslang.
Sie macht auch einsam. Außer seiner Freundin und ihrer Tochter besuche ihn niemand, sagt Giamblanco. Selbst die beiden italienischen Kollegen, die den Überfall in Trebbin miterlebten, hätten sich nicht mehr gemeldet. Der Kontakt zu seiner Familie scheint abgerissen zu sein. Angelica Berdes berichtet, Giamblancos Arbeitslosengeld in Höhe von 1.015 Mark monatlich behalte das Sozialamt ein. Der Grund: Seine Ex-Frau bekomme Sozialhilfe, die hole sich die Behörde von Giamblanco zurück. Also blieben ihm nur 800 Mark Opferentschädigung pro Monat. Angelica Berdes und ihre Tochter sind kaum besser dran. Sie erhalten 1.115 Mark Pflegegeld. Macht zusammen knapp 2.000 Mark. Angelica Berdes hat ihren Job in der Schokoladenfabrik aufgegeben, Tochter Efthimia brach eine Lehre als Friseuse ab. Ihre Mutter allein wäre mit der Pflege von Giamblanco überfordert.
Mühsam halten die beiden Frauen sich und den schwerbehinderten Mann finanziell über Wasser. Die Wohnung in Bielefeld kostet 700 Mark, nun kommen wieder täglich die Fahrten mit dem eigenen Wagen zu einer Reha-Klinik hinzu. Immerhin ist Bad Oeynhausen nicht halb so weit von Bielefeld entfernt wie Coppenbrügge. Doch Angelica und Efthimia Berdes haben ihre Ersparnisse aufgebraucht. Auch von den rund 9000 Mark, die bei einer Spendenaktion nach dem Angriff in Trebbin eingingen, ist nichts übrig. »Wir leben vorsichtig«, sagt Efthimia Berdes, »damit am Monatsende immer was übrig ist. Für den Notfall.«
Wenn Giamblanco nachts wach liegt, quält ihn auch der Gedanke, dass er als Ernährer ausfällt. »Kann nicht schlafen … Frau braucht Geld.« Angelica Berdes lächelt zaghaft. »Orazio, klappt schon.« Dann lenkt ihre Tochter mit einem positiven Thema ab: Fußball. Giamblanco schaut sich im Fernseher, der im Krankenzimmer an einem Gestell von der Decke hängt, Sportsendungen an. Nicht lange, weil sonst die Augen schmerzen. Sein Lieblingsverein ist Dortmund. Zum ersten Mal zieht er den linken Mundwinkel hoch und deutet ein Lächeln an. Kein italienischer Klub? Doch, Giamblanco zögert, »Inter Mailand«. Erneut geht der Mundwinkel etwas hoch.
Dann wird der Blick wieder ernst. »Will in Heimat … nach Italien.« Er hoffe auf einen Lebensabend in seiner Heimat oder in Griechenland, erzählt Efthimia Berdes, da komme ihre Mutter her. Giamblanco hat offenbar ein letztes Ziel: Deutschland zu verlassen. Vielleicht die einzige Motivation, sich noch einmal mit Krankengymnastik und Sprachtherapie zu quälen. »Orazio kämpft jetzt«, sagt Efthimia Berdes knapp. Giamblanco blickt starr. Er kämpft mit seinem Körper, seinen Schmerzen, seiner Wut, seiner Erinnerung und der Erniedrigung, vom Mann zum Krüppel gemacht worden zu sein. Vor allem aber scheint er gegen das übermächtige Verlangen zu kämpfen, endgültig zu resignieren.
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